Der Engländer
vergossen worden? Und hier lagen sie, in einer verschlossenen Stahlkassette in den Gewölben einer Züricher Bank. Wie passend! Wie völlig logisch.
Anna machte sich wieder daran, den Inhalt der kleineren Depotkassette zu sortieren. Obenauf lagen dicke Geldscheinbündel - Schweizer Franken, Dollar, Pfund Sterling, Schwedenkronen -, die sie mit der Nonchalance einer Frau herausnahm, die den Umgang mit viel Geld gewöhnt ist. Dann folgten eine Mappe mit Dokumenten, die sich wie eine Ziehharmonika öffnen ließ, und darunter ein Packen Briefe, der von einem blaßblauen Gummiband zusammengehalten wurde.
Sie streifte das Gummiband ab, ließ es auf dem Tisch liegen und begann, den Packen Briefe mit langen, gelenkigen Fingern durchzublättern.
Zeigefinger, Mittelfinger, Zeigefinger, Mittelfinger, Pause… Zeigefinger, Mittelfinger, Zeigefinger, Mittelfinger, Pause…
Dann zog sie einen Briefumschlag heraus, drehte ihn um, überzeugte sich davon, daß seine Klappe noch zugeklebt war, und hielt ihn dann Gabriel hin.
»Der dürfte dich interessieren.«
»Vom wem ist er?«
»Weiß ich nicht«, sagte sie. »Aber er ist an dich adressiert.«
Das Papier war das persönliche Briefpapier eines Mannes aus einem anderen Zeitalter: blaßgrau, DIN A4-Größe, mit dem Namen AUGUSTUS ROLFE in der Mitte des Briefkopfs, ohne überflüssige Angaben wie Fax-oder E-Mailadresse. Das handschriftliche Datum zeigte, daß der Brief einen Tag vor Gabriels Ankunft in Zürich verfaßt worden war. Der englische Brieftext stammte von einem alten Mann, dessen Handschrift nicht länger leserlich war.
Das Ergebnis war, daß dieser Brief in fast jeder Sprache unter Benützung fast jeden Alphabets hätte geschrieben sein können.
Aber mit Annas Hilfe, die ihm über die Schulter sah, gelang es Gabriel, den Text zu entziffern.
Lieber Gabriel, ich hoffe, Sie halten es nicht für anmaßend, daß ich mich dafür entschieden habe, Sie mit Ihrem wahren Namen anzusprechen, aber ich kenne Ihre wahre Identität schon seit geraumer Zeit und bin ein Bewunderer Ihrer Arbeit - als Restaurator wie als Beschützer Ihres Volkes, Als Schweizer Pñvatbankier hat man seine Informationsquellen. Lesen Sie diese Zeilen, bedeutet das gewiß, daß ich tot bin. Es bedeutet
aber auch, daß Sie vermutlich zahlreiche Informationen über mein Leben zusammengetragen haben - Informationen, die ich Ihnen persönlich geben zu können gehofft hatte. Ich möchte versuchen, das jetzt posthum nachzuholen.
Wie Sie unterdessen wissen, habe ich Sie nicht nach Zürich in meine Villa kommen lassen, um Sie meinen Raffael reinigen zu lassen. Ich habe aus einem ganz bestimmten Grund Verbindung mit Ihrem Dienst aufgenommen: Ich wollte Ihnen meine zweite Kunstsammlung übergeben - die geheime Sammlung in der Schatzkammer unter meiner Villa, von der Sie inzwischen zweifellos wissen -, damit die Bilder ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben werden. Sollten die rechtmäßigen Eigentümer nicht mehr ermittelt werden können, würde ich mir wünschen, daß diese Gemälde in Museen in Israel ausgestellt werden. An Ihren Dienst habe ich mich gewandt, weil ich die Angelegenheit diskret behandelt wissen wollte, um zu vermeiden, noch mehr Schande über meine Familie oder mein Land zu bringen. Die Bilder wurden scheinbar rechtmäßig, aber in Wirklichkeit doch illegal erworben. Als ich sie »kaufte«, war mir bekannt, daß sie aus den Sammlungen jüdischer Kunsthändler und Privatsammler in Frankreich geraubt waren.
Sie betrachten zu dürfen, hat mir im Lauf der Jahre unzählige Stunden der Freude bereitet, aber wie ein Mann, der bei einer Frau liegt, die nicht seine eigene ist, empfinde ich schmerzhafte Schuldgefühle. So war es mein Wunsch, diese Gemälde vor meinem Tod zurückzugeben, um Wiedergutmachung für meine Sünden in diesem Leben zu leisten, bevor ich ins nächste weiterschreite. Eine Ironie des Schicksals will es, daß ich in den Grundlagen Ihrer Religion eine Inspiration für mich entdeckt habe. An Jom Kippur genügt es nicht, seine Missetaten zu bedauern. Um Vergebung zu erlangen, muß man die Geschädigten aufsuchen und Wiedergutmachung leisten.
Bedeutung erlangte für mich der Prophet Jesaja. Bei ihm wollen Sünder mit Gott rechten: »Warum fasten wir, und du siehst es nicht an? Warum tun wir unserem Leib wehe, und du willst's nicht wissen?« Und Gott erwidert: »Siehe, wenn ihr fastet, so übt ihr doch euren Willen und treibt alle eure Arbeiter. Siehe, ihr
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