Der Engländer
aus den Fingern, bevor sie es zerreißen konnte. Dann legte er eine Hand auf ihren Kopf und streichelte ihr Haar. Annas Schluchzen wurde endlich hörbar.
Dann verschluckte sie sich und begann zu husten - ein tiefer Raucherhusten, der sie nach Luft ringen ließ.
Schließlich sah sie zu Gabriel auf. »Hätte meine Mutter dieses Bild jemals gesehen…« Sie zögerte mit offenem Mund, während ihr weiter Tränen übers Gesicht liefen. »Dann hätte sie… Sie hätte…«
Aber Gabriel hielt ihr sanft den Mund zu, bevor sie den Satz zu Ende bringen konnte. Er wollte nicht, daß sie weitersprach.
Das war überflüssig, denn er wußte, was Anna sagen wollte: Hätte ihre Mutter dieses Photo , gesehen, hätte sie sich umgebracht. Sie hätte ihr eigenes Grab ausgehoben, sich hineingelegt, eine Gewehrmündung in den Mund genommen und sich erschossen.
Nun war Anna an der Reihe, sich ins Bad zurückzuziehen. Als sie wieder zum Vorschein kam, wirkte sie äußerlich ruhig, aber ihre Augen waren gerötet, und ihr Gesicht war leichenblaß. Sie setzte sich mit den Photos und Schriftstücken in einer Hand aufs Fußende des Betts und tippte auf die Liste. »Was ist das hier?«
»Sieht wie eine Liste mit Nummernkonten aus.«
»Wessen Nummernkonten?«
»Das sind alles deutsche Namen. Wer dahintersteckt, läßt sich nicht einmal vermuten.«
Sie studierte die Liste mit gerunzelter Stirn. »Meine Mutter ist 1933 am ersten Weihnachtsfeiertag zur Welt gekommen. Habe ich dir das schon mal erzählt?«
»Wir haben noch nie über das Geburtsdatum deiner Mutter gesprochen, Anna. Weshalb sollte es jetzt eine Rolle spielen?«
Sie hielt ihm die Liste hin. »Sieh dir den Namen in der letzten Zeile an.«
Gabriel griff nach der Liste. Er las den letzten Namen auf der Seite und die dazugehörige Nummer:
ALOIS RITTER
25121933126.
Er hob den Kopf. »Und?«
»Ist es nicht interessant, daß ein Mann mit den gleichen Initialen wie mein Vater eine Kontonummer hat, deren erste acht Ziffern mit dem Geburtstag meiner Mutter
übereinstimmen?«
Gabriel sah sich die Liste erneut an:
ALOIS RITTER… AR… 23121933… erster Weihnachtsfeiertag 1933…
Er ließ das Blatt sinken und sah zu Anna hinüber. »Und die drei Endziffern? Sagen die dir auch etwas?«
»Leider nicht.«
Gabriel starrte die Endziffern an und schloß die Augen. 126…
Irgendwo, irgendwann, das wußte er bestimmt, hatte er sie in Verbindung mit diesem Fall gesehen. Er war mit einem vollkommenen Gedächtnis geschlagen. Er vergaß niemals etwas. Die Pinselstriche, mit denen er das Altarbild mit dem heiligen Stephan im Stephansdom restauriert hatte. Den Schlager, den das Autoradio in der Nacht gedudelt hatte, als er nach der Liquidierung Ali Hamidis aus Zürich-Niederdorf weggefahren war. Das Olivenaroma in Leahs Atem, als er sie zum letztenmal zum Abschied geküßt hatte.
Und nach kurzem Überlegen auch, wo er die Zahl 126 gesehen hatte.
Anna hatte immer ein Photo von ihrem Bruder in ihrer Geldbörse. Es war die letzte Aufnahme, die von ihm existierte - an seinem Todestag als Ausreißer auf dem Weg zu einem Etappensieg bei der Tour de Suisse. Das gleiche Photo hatte Gabriel auf Augustus Rolfes Schreibtisch stehen sehen. Jetzt betrachtete er die Nummer am Rennrad und auf dem Trikot Max Rolfes: 126.
»Sieht so aus, als müßten wir nach Zürich zurück«, meinte Anna.
»Zuerst müssen wir etwas wegen deines Passes unternehmen. Und wegen deines Aussehens.«
»Was ist mit meinem Paß nicht in Ordnung?«
»Er ist auf deinen Namen ausgestellt.«
»Und mit meinem Aussehen?«
»Absolut nichts. Das ist das Problem.«
Er nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer.
Die junge Frau namens Hannah Landau kam an diesem Abend um zweiundzwanzig Uhr in ihr Hotelzimmer. Sie trug klappernde Armreifen und duftete nach Jasmin. Der kleine Lederkoffer, den sie in der Hand trug, sah dem ähnlich, in dem Gabriel seine Pinsel und Farben transportierte. Sie sprach kurz mit Gabriel, dann zog sie Anna an der Hand mit sich ins Bad und schloß die Tür hinter ihnen.
Eine Stunde später kam Anna wieder heraus. Ihr schulterlanges blondes Haar war kurz geschnitten und schwarz gefärbt, ihre grünen Augen hatten sich durch Kontaktlinsen in blaue verwandelt. Die dadurch bewirkte Veränderung war wirklich erstaunlich. Vor Gabriel schien eine völlig andere Frau zu stehen.
»Einverstanden?« fragte Hannah Landau.
»Jetzt noch das Paßphoto.«
Mit einer Polaroid-Kamera machte die Israelin
Weitere Kostenlose Bücher