Der Engländer
Privatkapelle geschaffen hatte.
Das war Gabriels erster Auftrag nach dem Bombenanschlag in Wien gewesen, und er hatte sich bewußt eine schwierige Arbeit gesucht, um sich damit ablenken zu können. Der Tintoretto entsprach genau dieser Vorgabe. Im Lauf der Jahrhunderte waren so große Teile des Originals verlorengegangen, daß auf der Leinwand mehr leere als mit Farbe bedeckte Flecken zu sehen waren. Im Grunde genommen hatte Gabriel das ganze Bild unter Einbeziehung der wenigen noch erhaltenen Stellen neu malen müssen. Vielleicht gelang ihm das auch mit diesem Fall: die gesamte Story aus den wenigen Bruchstücken zu rekonstruieren, die er kannte.
Vielleicht war sie etwa folgendermaßen abgelaufen…
Augustus Rolfe, ein prominenter Züricher Privatbankier, beschließt, seine Impressionistensammlung aufzugeben - eine Sammlung, von der er weiß, daß sie Bilder enthalt, die während des Kriegs französischen Juden geraubt wurden. Wie es seiner Wesensart entspricht, will Rolfe diese Transaktion unauffällig abwickeln, deshalb nimmt er Verbindung mit dem israelischen Geheimdienst auf und bittet um Entsendung eines Beauftragten nach Zürich. Schamron schlägt vor, Gabriel solle sich unter dem Vorwand, den Raffael zu reinigen, mit Rolfe in dessen Züricher Villa treffen.
Leider haben sie irgendwie von meiner Absicht erfahren, die Sammlung aufzulösen und die Bilder zurückzugeben…
Irgendwann während dieses Ablaufs macht Rolfe einen Fehler, und seine Absicht, die Gemälde zurückzugeben oder israelischen Museen zu überlassen, wird von jemandem entdeckt, der ihn daran hindern will.
Sie halten sich für Patrioten, für Hüter der Schweizer Ideale von Neutralität und wehrhafter Unabhängigkeit.
Außenstehenden, vor allem solchen, die ihrer Ansicht nach ihr Überleben gefährden könnten, stehen sie kompromißlos feindselig gegenüber…
Wer könnte sich dadurch bedroht fühlen, daß ein Schweizer Bankier eine ergaunerte Kunstsammlung ihren Eigentümern zurückgeben oder Israel schenken will? Andere Schweizer Bankiers mit ähnlichen Sammlungen?
Gabriel versuchte, den Fall aus ihrer Perspektive zu sehen - aus der Perspektive dieser »Hüter der Schweizer Ideale von Neutralität und wehrhafter Unabhängigkeit«. Was wäre passiert, wenn die Öffentlichkeit erfahren hätte, daß Augustus Rolfe so viele Gemälde besaß, die als verschollen und wahrscheinlich verloren galten? Der Aufschrei wäre ohrenbetäubend gewesen.
Die jüdischen Organisationen der Welt hätten sich demonstrierend in der Züricher Bahnhofstraße versammelt und die Öffnung der Banktresore gefordert. Nichts unterhalb einer landesweiten systematischen Suche wäre dann noch akzeptabel gewesen. Gehörte man zu diesen selbsternannten Hütern der Schweizer Ideale, war es womöglich einfacher gewesen, einen Mann zu ermorden und seine Kunstsammlung zu stehlen, als zu riskieren, unangenehme neue Fragen zur Vergangenheit beantworten zu müssen.
Sie haben einen Mann vom Sicherheitsdienst hergeschickt, der mich einschüchtern sollte…
Gabriel erinnerte sich an die Zigarettenstummel der Marke Silk Cut, die er in dem Aschenbecher auf Rolfes Schreibtisch gesehen hatte.
… einen Mann vom Sicherheitsdienst…
Gerhardt Peterson.
Peterson sucht Rolfe auf. Sie treffen sich in dem stillen Arbeitszimmer von Rolfes Villa am Zürichberg und diskutieren die Situation wie zwei Schweizer Gentlemen, wobei Rolfe seine Benson & Hedges und Peterson seine Silk Cuts raucht. »Wozu die Gemälde jetzt zurück-oder weggeben, Herr Rolfe? Seit damals sind so viele Jahre vergangen. Und die Vergangenheit läßt sich jetzt nicht mehr ändern.« Aber Rolfe bleibt uneinsichtig, deshalb verabredet Peterson mit Werner Müller den Diebstahl seiner Sammlung.
Rolfe weiß, daß Gabriel am nächsten Tag kommen wird, aber er ist besorgt genug, um ihm einen Brief zu schreiben und in seiner Depotkassette zu hinterlegen. Anschließend versucht er, eine falsche Fährte zu legen. Er benützt sein Telefon, von dem er weiß, daß es abgehört wird, um für den folgenden Vormittag einen Termin in Genf zu vereinbaren. Dann sorgt er dafür, daß Gabriel sich mit den Sicherheitscodes Zugang zur Villa verschaffen kann, und wartet ab.
Gegen drei Uhr morgens fällt die Alarmanlage seiner Villa jedoch plötzlich aus. Petersons Team dringt in das Haus ein.
Rolfe wird erschossen, seine Sammlung abtransportiert. Sechs Stunden später trifft Gabriel in der Villa ein und entdeckt Rolfes Leiche. Während
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