Der Engländer
stellte sie ihm hin.
»Heute habe ich deinen Freund Emil Jacobi im Fernsehen gesehen«, sagte Lavon. »Jemand ist in seine Wohnung eingedrungen und hat ihm die Kehle durchgeschnitten.«
»Ja, ich weiß. Was hast du aus New York gehört?«
»In den Jahren 1941 bis 1944 hat Augustus Rolfe von Galeristen in Zürich und Luzern offenbar eine größere Anzahl impressionistischer und moderner Gemälde übernommen - alles Bilder, die zuvor in Galerien und Privathäusern von Pariser Juden gehangen hatten.«
»Was für eine Überraschung«, murmelte Gabriel. »Eine größere Anzahl? Wie viele?«
»Unklar.«
»Er hat sie gekauft?«
»Das nicht gerade. Die von Rolfe übernommenen Gemälde scheinen Bestandteil mehrerer größerer Tauschgeschäfte gewesen zu sein, die Beauftragte Hermann Görings in der Schweiz durchgeführt haben.«
Gabriel erinnerte sich daran, was Julian Isherwood ihm über die Sammlerwut des Reichsmarschalls erzählt hatte. Göring hatte ungehinderten Zugang zum Jeu de Paume gehabt, in dem die in Frankreich beschlagnahmten Kunstwerke gelagert gewesen waren. Er hatte sich dort unzählige moderne Gemälde gesichert, um sie als Tauschobjekte für die Alten Meister, die er bevorzugte, benützen zu können.
»Gerüchten zufolge soll es Rolfe gestattet worden sein, diese Gemälde zu äußerst niedrigen Preisen zu kaufen«, sagte Lavon.
»Offenbar hat er weit weniger als ihren tatsächlichen Marktwert bezahlt.«
»Aber selbst in diesem Fall wären seine Erwerbungen nach Schweizer Recht völlig legal gewesen. Rolfe konnte immer sagen, er habe die Bilder gekauft. Und auch wenn sie gestohlen waren, war er gesetzlich nicht zur Rückgabe an ihre früheren Eigentümer verpflichtet.«
»Das scheint die Rechtslage zu sein. Aber wir sollten uns folgende Frage stellen: Wieso durfte Augustus Rolfe moderne Gemälde, die Hermann Göring abstoßen wollte, zu Schleuderpreisen kaufen?«
»Weiß dein Freund in New York eine Antwort auf diese Frage?«
»Nein, aber du kannst sie beantworten.«
»Wie meinst du das, Eli?«
»Ich rede von den Photos und Bankunterlagen, die du in seinem Schreibtisch gefunden hast. Von seinen Kontakten zu Walter Schellenberg. Die Familie Rolfe hat seit Generationen Kunst gesammelt. Rolfe hatte sehr gute Beziehungen. Er wußte genau, was jenseits der Grenze in Frankreich vor sich ging, und war entschlossen, davon zu profitieren.«
»Und Walter Schellenberg suchte eine Möglichkeit, seinen Züricher Privatbankier zu entschädigen.«
»In der Tat«, sagte Lavon. »Als Entlohnung für erwiesene Dienste.«
Gabriel lehnte sich in seinen Sessel zurück und schloß die Augen.
»Was nun, Gabriel?«
»Es wird Zeit, ein Gespräch zu führen, vor dem ich bisher zurückgeschreckt bin.«
Als Gabriel ins Zimmer zurückkam, begann Anna eben aufzuwachen. Er rüttelte sie sanft an der Schulter, und sie setzte sich ruckartig auf wie ein Kind, das verwirrt auf eine fremde Umgebung reagiert. Sie fragte nach der Uhrzeit, und er antwortete, es sei früher Abend.
Sobald sie ihre Schlaftrunkenheit abgeschüttelt hatte, zog er einen Sessel ans Bettende und ließ sich hineinfallen. Er machte kein Licht; er hatte nicht den Wunsch, ihr Gesicht zu sehen.
Anna saß mit übergeschlagenen Beinen aufrecht am Kopfende und hatte die Bettdecke bis zu den Schultern hochgezogen. Sie starrte ihn an - selbst in der Dunkelheit spürte Gabriel ihren Blick auf sich.
Er erzählte ihr von den Ursprüngen der geheimen Gemäldesammlung ihres Vaters. Er erzählte ihr, was er von Emil Jacobi erfahren hatte und daß der Professor letzte Nacht in seiner Lyoner Wohnung ermordet worden war. Zuletzt erzählte er ihr von den Schriftstücken, die er im Schreibtisch ihres Vaters entdeckt hatte - von den belastenden Dokumenten, die ihn mit Hitlers Chefspion Walter Schellenberg in Verbindung brachten.
Als Gabriel fertig war, legte er die beiden Photos aufs Bett und verschwand im Bad, um Anna für kurze Zeit allein zu lassen. Er hörte, wie die Nachttischlampe angeknipst wurde, und sah den hellen Lichtstreifen, der sich unter der Badezimmertür abzeichnete. Gabriel ließ Wasser laufen und zählte in Gedanken langsam bis hundert.
Als ein angemessen langer Zeitraum verstrichen war, ging er ins Zimmer zurück. Er fand Anna im Bett zusammengerollt vor; ihr Körper zuckte lautlos, und ihre Rechte hielt das Photo umklammert, auf dem ihr Vater mit Adolf Hitler und Heinrich Himmler die Aussicht vom Berghof bewunderte.
Gabriel zog ihr das Photo
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