Der Engländer
vor?«
»Nein«, sagte sie.
»Warum nicht?«
»Weil ich nie für Freunde spiele.«
Zehn Minuten später: die Grenze. Der Sattelschlepper reihte sich in die Schlange von Lastwagen ein, die nach Deutschland wollten. Er kroch meterweise vorwärts: anfahren, bremsen, anfahren, bremsen . Bei jedem Mal ruckelten ihre Köpfe nach hinten und wieder nach vorn wie bei einem Paar Spielzeugtiere.
Jede Betätigung des Bremspedals erzeugte ein ohrenbetäubendes Quietschen; jeder Tritt aufs Gaspedal hüllte sie in übelriechende Schwaden von Dieselqualm.
Anna legte den Kopf an seine Schulter und flüsterte: »Jetzt wird mir schlecht, fürchte ich.«
Gabriel drückte ihre Hand.
Jenseits der Grenze stand ein anderer Wagen für sie bereit, ein dunkelblauer Ford Fiesta mit Münchner Kennzeichen. Ari Schamrons Fernfahrer setzte sie ab und beförderte seine Büromöbelfracht mit unbekanntem Ziel weiter. Gabriel legte die beiden Stahlboxen in den Kofferraum und begann zu fahren: auf der A81 nach Stuttgart, der A8 nach Karlsruhe und der A5 nach Frankfurt. Am späten Abend hielt er an, um zu telefonieren, wählte die Notfallnummer in Tel Aviv und sprach kurz mit Schamron.
Kurz nach zwei Uhr morgens erreichten sie die nur wenige Kilometer von der Nordsee entfernte holländische Kleinstadt Delft. Gabriel konnte nicht weiterfahren.
Seine Augen brannten, der Schädel brummte ihm vor Erschöpfung. In acht Stunden würde in Hoek van Holland die Fähre nach Harwich in England auslaufen, und er würde mit Anna an Bord sein, aber im Augenblick brauchte er ein Bett und ein paar Stunden Ruhe, deshalb fuhren sie auf der Suche nach einem Hotel durch die Straßen der alten Stadt.
Sie fanden eines in der Vondelstraat, in Sichtweite des Turms der Nieuwe Kerk. Während Anna die Formalitäten am Empfang erledigte, wartete Gabriel mit den beiden Stahlkassetten in dem winzigen Salon gleich neben dem Eingang. Wenige Minuten später begleitete der junge Nachtportier sie eine schmale Treppe in ein überheiztes Zimmer mit schrägen Wänden und einer Dachgaube hinauf, deren Fenster Gabriel sofort aufriß.
Er stellte die Boxen in den Kleiderschrank; dann streifte er seine Schuhe ab und ließ sich aufs Bett fallen. Anna verschwand im Bad, und im nächsten Augenblick hörte Gabriel das beruhigende Geräusch von Wasser, das ins Waschbecken plätscherte. Durchs offene Fenster blies ein kalter Nachtwind herein. Die frische Seebrise umschmeichelte sein erhitztes Gesicht. Er schloß müde die Augen.
Einige Minuten später kam Anna aus dem Bad. Ein blendend heller Lichtschein kündigte ihr Kommen an; dann streckte sie eine Hand aus und betätigte den Lichtschalter. Jetzt lag der Raum wieder im Dunkeln und wurde nur durch den schwachen Widerschein der Straßenbeleuchtung erhellt.
»Bist du wach?«
»Nein.«
»Willst du nicht wie in Wien auf dem Fußboden schlafen?«
»Ich kann mich nicht bewegen.«
Sie hob ihre Hälfte der Bettdecke hoch und schlüpfte darunter.
Gabriel fragte: »Woher hast du gewußt, daß Adagio das Kennwort war?«
»Albinonis Adagio war eines der ersten Stücke, das ich spielen gelernt habe. Aus irgendeinem Grund ist es das Lieblingsstück meines Vaters geblieben.« Ihr Feuerzeug flammte in der Dunkelheit auf. »Mein Vater wollte Vergebung für seine Sünden. Er wollte Absolution. Er war bereit, sich deswegen an dich zu wenden - aber nicht an mich. Warum hat mein Vater nicht mich um Verzeihung gebeten?«
»Wahrscheinlich hat er geglaubt, du würdest sie ihm nicht gewähren.«
»Das klingt, als sprächst du aus Erfahrung, Gabriel. Hat deine Frau dir jemals verziehen?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Und was ist mit dir? Hast du dir jemals verziehen?«
»Vergebung würde ich's nicht nennen.«
»Wie würdest du's nennen?«
»Übereinkunft. Ich habe mich mit mir selbst arrangiert.«
»Mein Vater ist gestorben, ohne Absolution erlangt zu haben.
Er hatte vermutlich nichts anderes verdient. Aber ich möchte zu Ende bringen, was er angefangen hat. Ich will die Gemälde wiederfinden, sie ihren Eigentümern zurückgeben und die restlichen Bilder nach Israel schicken.«
»Das will ich auch.«
»Aber wie?«
»Schlaf jetzt, Anna.«
Das tat sie prompt. Neben ihr blieb Gabriel wach, wartete darauf, daß es Tag wurde, und horchte auf die Möwen auf dem Kanal und den gleichmäßigen Rhythmus von Annas Atemzügen. In dieser Nacht gab es keine Dämonen, keine Alpträume - nur den unschuldigen Schlaf eines Kindes. Gabriel schlief jedoch
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