Der Engländer
merkte plötzlich, daß er wollte, daß sie alles wußte. Und so erzählte er ihr von jenem Abend vor zehn Jahren in Wien, an dem sein Feind, ein palästinensischer Terrorist namens Tariq al-Hourani, unter seinem Auto einen Sprengsatz angebracht hatte eine Bombe, die seine Familie vernichten sollte, weil der Palästinenser wußte, daß dieses Schicksal für Gabriel schlimmer war, als selbst einem Attentat zum Opfer zu fallen.
Es war nach dem Abendessen passiert. Leah war während des Essens nervös gewesen, weil der Fernseher über der Bar Aufnahmen von auf Tel Aviv herabregnenden irakischen Scud-Raketen zeigte. Leah war eine gute Israelin; ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, in einem hübschen kleinen italienischen Restaurant in Wien Pasta zu essen, während ihre Mutter in Tel Aviv mit aufgesetzter Gasmaske in ihrem Apartment hockte, dessen Fensterritzen sie mit Paketband zugeklebt hatte.
Nach dem Essen gingen sie bei leichtem Schneetreiben zu Gabriels Wagen. Er schnallte Dani auf seinem Kindersitz an, küßte seine Frau zum Abschied und erklärte ihr, er müsse heute bis spät in die Nacht arbeiten. Er hatte einen Auftrag für Schamron auszuführen: die Liquidation eines irakischen Geheimdienstagenten, der die Ermordung von Juden plante. Das erzählte er Anna Rolfe nicht.
Als Gabriel sich abwandte und wegging, versuchte Leah den Motor anzulassen, was nicht gleich klappte, weil die von Tariq unter seinem Wagen angebrachte Autobombe ihren Zündstrom aus der Batterie bezog. Er warf sich herum und brüllte Leah zu, die Hand vom Zündschlüssel zu nehmen, aber sie schien ihn nicht gehört zu haben, denn sie drehte den Schlüssel erneut nach rechts.
Ein angeborener Instinkt, sein Kind zu retten, ließ ihn zuerst nach Dani sehen, aber der Kleine war bereits tot, von der Bombe zerfetzt. Daraufhin bemühte er sich um Leah, und es gelang ihm, sie aus dem brennenden Autowrack zu ziehen. Sie hatte überlebt, aber es wäre vielleicht besser gewesen, sie wäre ebenfalls gestorben. Jetzt war sie in einer Nervenklinik im Süden Englands untergebracht und litt unter einer Kombination aus posttraumatischem Streßsyndrom und psychotischen Depressionen. Seit jenem Abend in Wien hatte sie nie mehr ein Wort mit Gabriel gesprochen.
Auch davon erzählte er Anna Rolfe nichts.
»Das muß schwierig für dich gewesen sein - wieder nach Wien zu kommen.«
»Es war das erste Mal.«
»Wo hast du sie kennengelernt?«
»Auf der Kunstakademie.«
»War sie auch Malerin?«
»Sie konnte viel besser malen als ich.«
»War sie schön?«
»Sie war sehr schön. Jetzt hat sie lauter Narben.«
»Wir haben alle Narben, Gabriel.«
»Nicht wie Leah.«
»Warum hat der Palästinenser einen Sprengsatz unter dem Auto angebracht?«
»Ich hatte seinen Bruder erschossen.«
Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, bog ein Volvo-Sattelschlepper auf den Parkplatz ab und blinkte zweimal.
Gabriel ließ den Motor an und folgte dem Fahrzeug zu einem Waldparkplatz außerhalb von Bargen. Der Fahrer sprang aus seiner Kabine und öffnete rasch die Hecktür des Anhängers.
Gabriel und Anna stiegen aus; Anna trug die kleine Depotkassette, Gabriel den großen Stahlbehälter mit den zusammengerollten Gemälden. Er machte kurz halt, um die Autoschlüssel in hohem Bogen in den Wald zu werfen.
Der Anhänger war voller mit Wolldecken geschützter Büromöbel: Schreibtische, Drehsessel, Bücherregale, Aktenschränke. »Ihr klettert ganz nach vorn durch«, wies der Fahrer sie an. »Macht euch möglichst klein und zieht die zusätzlichen Wolldecken über euch.«
Gabriel kletterte mit der schwer zu handhabenden Stahlbox voraus. Anna folgte ihm. An der Vorderwand des Anhängers war eben Platz genug, daß sie mit bis zum Kinn hochgezoge nen Knien auf dem Wagenboden sitzen konnten. Sobald Anna ihren Platz eingenommen hatte, zog Gabriel eine Wolldecke über ihre Köpfe. Um sie herum war es stockfinster.
Der Sattelschlepper rumpelte auf die Fernstraße hinaus, beschleunigte dann und raste einige Minuten lang in flottem Tempo weiter. Gabriel glaubte zu spüren, wie Spritzwasser von den Reifen den Unterboden des Trailers traf. Anna begann leise zu summen.
»Was soll das?«
»Ich summe immer, wenn ich Angst habe.«
»Ich lasse nicht zu, daß dir etwas passiert.«
»Versprochen?«
»Ehrenwort«, sagte er. »Also, was hast du gesummt?«
»Die Melodie des Schwans aus Karneval der Tiere von.
Camille Saint-Saèns.«
»Spielst du mir dieses Stück mal
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