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Der Engländer

Der Engländer

Titel: Der Engländer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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nicht. Diesen Luxus konnte er sich noch nicht leisten. Erst wenn die Gemälde sicher in Julian Isherwoods Tresorraum lagen dann würde auch er schlafen.

TEIL III

32 - NIDWALDEN, SCHWEIZ
    Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs gab General Henri Guisan, der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, einen verzweifelten Plan für den Fall bekannt, daß die übermächtige deutsche Wehrmacht versuchen würde, das Land zu besetzen.
    Sollten die Deutschen einmarschieren, sagte Guisan, werde die Armee sich ins Réduit National, die durch Berge gebildete Schweizer Alpenfestung, zurückziehen und die Tunnel sprengen. Und dort werde sie in den tiefen Tälern und auf den hohen Gletschern bis zum letzten Mann kämpfen. Aber dazu war es natürlich nicht gekommen. Hitler hatte schon bald nach Kriegsausbruch erkannt, daß eine neutrale Schweiz für ihn wertvoller war als eine besetzte Schweiz in Ketten. Trotzdem lebt die heldenhafte Abwehrstrategie des Generals gegen eine drohende feindliche Invasion im Gedächtnis seiner Landsleute noch immer weiter.
    Tatsächlich erinnerte auch Gerhardt Peterson sich an sie, als er am folgenden Nachmittag an Luzern vorbeifuhr und die Alpen, deren Gipfel wolkenverhangen waren, vor sich aufragen sah. Er spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, als er Gas gab und sein großer Mercedes die erste Paßstraße hinaufröhrte. Peterson stammte aus der Innerschweiz und konnte seine Abstammung bis zu den Urvätern der Waldstätten zurückverfolgen. Er fand einen gewissen Trost in dem Bewußtsein, daß seine Vorfahren diese Bergtäler zur selben Zeit durchstreift hatten, als ein junger Mann namens Jesus von Nazareth am anderen Ende des römischen Reichs Unruhe gestiftet hatte. Peterson fühlte sich unwohl, wenn er sich allzuweit von »seiner« Alpenfestung entfernte. Er erinnerte sich schaudernd an eine Dienstreise, die ihn vor einigen Jahren nach Rußland geführt hatte. Die endlosen Weiten der russischen Landschaft hatten seine Sinne verwirrt. In seinem Moskauer Hotelzimmer hatte er zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben an Schlaflosigkeit gelitten. Nach der Rückkehr war er sofort zu seinem Landhaus hinausgefahren und hatte den Tag damit verbracht, in den Bergen über dem Vierwaldstätter See zu wandern. In jener Nacht hatte er wieder geschlafen.
    Sein plötzlicher Ausflug in die Alpen an diesem Nachmittag hatte jedoch nichts mit Freizeitvergnügen zu tun, sondern war durch zwei Hiobsbotschaften veranlaßt worden. Die erste betraf einen Audi A8, der auf einem Waldparkplatz zwischen Bargen und der deutschen Grenze verlassen aufgefunden worden war.
    Eine Überprüfung hatte ergeben, daß Anna Rolfe den Audi am Vorabend in Zürich gemietet hatte. Die zweite war ein Bericht von einem Informanten aus dem Züricher Bankenviertel. Die Sache geriet außer Kontrolle; Peterson hatte das Gefühl, sie gleite ihm aus den Händen.
    Es begann zu schneien: große, daunenweiche Flocken, die den Nachmittag in eine diffuse weiße Hölle verwandelten. Peterson schaltete seine gelben Nebelscheinwerfer ein und ließ den rechten Fuß auf dem Gaspedal. Eine Stunde später fuhr er durch die Stadt Stans. Als er die Zufahrt zu Gesslers Chalet erreichte, lagen schon gut fünf Zentimeter Schnee.
    Dort angekommen, stellte er den Wahlhebel auf P. Zwei Männer von Gesslers Wachpersonal in dunkelblauen Anoraks und Wollmützen traten an seinen Wagen.
    Als kurze Zeit später die Formalitäten bezüglich Identifizierung und Anmeldung des Besuchers erledigt waren, fuhr Peterson weiter zu Gesslers Chalet hinauf. Dort wartete ein weiterer Mann, der sich damit vergnügte, einer heißhungrigen Schäferhündin Brocken rohen Fleischs zuzuwerfen.
    Am Ufer des Vierwaldstätter Sees, nicht allzuweit von Otto Gesslers Chalet entfernt, liegt die sagenhafte Geburtsstätte der Eidgenossenschaft. Am 1. August 1291 sollen die Anführer der sogenannten Waldstätten - Uri, Schwyz und Unterwaiden - mit ihren Gesinnungsgenossen auf dem Rütli, einer von Felswänden umgebenen Uferwiese, zusammengekommen sein und einen Verteidigungsbund gegen alle geschlossen haben, die Böses gegen sie und ihren Besitz im Schilde führen mochten. Den Schweizern ist dieses Ereignis heilig. Ein Wandgemälde mit der Darstellung des Rütlischwurs schmückt das Bundeshaus in Bern, und der erste August ist in der Schweiz ein gesetzlicher Feiertag.
    Siebenhundert Jahre später gründete eine Gruppe der reichsten und mächtigsten Schweizer Privatbankiers und Industriellen einen

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