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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Gedanken von Karl Polanyi (1944), so entscheidet die Verfügungsgewalt über Land (Boden) und Arbeitskraft über die Integrationsform einer Gesellschaft und damit darüber, welche Rolle die Wirtschaft in der Gesellschaft spielt. Zu einer Entgrenzung der Wirtschaft von politischen Machtvorgaben und damit zu einer Verselbständigung (»Entbettung«) der Ökonomie gegenüber der Gesellschaft kam es erst mit dem System preissetzender Märkte nicht nur für Sachgüter, sondern auch für Land und Arbeitskraft. In einer von sozialen Kontrollen immer stärker befreiten Marktgesellschaft ist weitgehend nur noch der Marktwert einer Ware bestimmend. Aber auch alle Faktoren, die Einfluss auf das Marktgeschehen nehmen, unterliegen statt sozialer und politischer Kontrolle immer mehr der Kontrolle durch
den Markt und nehmen so einen (fiktiven) Warencharakter an. So werden auch die Arbeitskraft und alle am Marktgeschehen direkt und indirekt Beteiligten zu Waren. Erich Fromm hat deshalb bereits 1947 die neue »Charakterorientierung, die in der Erfahrung wurzelt, dass man selbst eine Ware ist und einen Tauschwert hat, (…) Marketing-Orientierung« genannt (Fromm 1947, S. 48). Entscheidend ist nicht, wer man ist und was man kann, sondern wie man sich verkauft und erfolgreich macht.
    Ein Vordenker gegenwärtiger Entgrenzungsvorgänge in der Wirtschaft war Karl Marx. Er hatte bereits in Das Kapital (1867) gezeigt, wie die durch die Arbeitsteilung und die kapitalistische Lohnarbeit herbeigeführte Verselbständigung der Waren gegenüber ihren Produzenten zu einer Entfremdung des Menschen vom Produkt seiner Arbeit und zu einem Warenfetischismus führt: Die Produkte menschlicher Arbeit entwickeln ein Eigenleben, so dass Waren wie belebte, wirkmächtige Subjekte wahrgenommen werden, während der Arbeiter selbst zum scheinbaren Objekt , zur »Arbeitskraft« verdinglicht wird. Die fetischartige Zauberkraft von Waren lässt sich besonders eindrücklich am zinstragenden Kapital verdeutlichen. Die scheinbare Selbsttätigkeit von Waren zeigt sich hier darin, dass Geld noch mehr Geld produziert und dabei der Zusammenhang mit wertschöpfender Arbeit völlig unkenntlich geworden ist.
    Die genauere Analyse der Funktionsweise liberalisierter, preissetzender Märkte im Unterschied zur Funktionsweise anderer Marktformen und die Betrachtung der Rolle des Handels in der Marktgesellschaft hat den Wirtschaftsethnologen Stephen Gudeman dazu gebracht, in unserer Gesellschaft nicht mehr von einem Warenfetischismus, sondern von einem »Preisfetischismus« zu sprechen: »In der Marktwirtschaft sprechen wir von Preisen, wie wenn diese eine unabhängige Wirkmacht hätten.« (Gudeman 2008, S. 48-73, hier S. 53). Die Preise leben, erzeugen eine Spannung, ziehen in Mitleidenschaft, machen uns arm oder stärken uns. Das Leben der Menschen orientiert sich an der Lebendigkeit der Preise. Der Einzelne wird zum Schnäppchenjäger,
gibt sich am liebsten dem Preisvergleich hin und findet, »Geiz ist geil«.
    Ähnlich wie die Waren ihre Attraktivität dadurch erhalten, dass sie ihrer Produktionsbedingungen und der Arbeit entfremdet sind, so wird auch der Preisfetischismus durch die Beseitigung sämtlicher Beziehungsdimensionen zwischen Produzent bzw. Händler und Käufer ermöglicht. Das Aushandeln eines Preises auf einem afrikanischen Basar etwa setzt noch eine wechselseitige Bezogenheit des Händlers auf den Käufer und des Käufers auf den Händler und auf deren jeweilige Lebensumstände voraus. Die Größe der zu ernährenden Familie kann dabei zum Argument bei den Preisverhandlungen werden. Der Preis ist schließlich das Ergebnis eines nicht quantifizierbaren Beziehungs- und Verhandlungsprozesses. In der Marktgesellschaft hingegen werden Preise als rein quantitative Größen begriffen, die nichts über die tatsächlichen Qualitäten, Kosten, Produktionsbedingungen oder Ausbeutungsverhältnisse verraten. Sie sind Ergebnisse von Berechnungen und Kalkulationen; nicht berechenbare Beziehungsgrößen haben darin nichts zu suchen. Im Gegenteil, der Preis ist gerade deshalb attraktiv, weil über ihn unabhängig von Arbeit und Produktionsbedingungen frei verfügt werden kann. »Der Preisfetischismus beseitigt moralische und gesellschaftliche Einschränkungen zwischen Verkäufer und Käufer« (a.a.O., S. 65) und entgrenzt den Handel dadurch, dass er an die Stelle von Beziehung den Preis setzt. Erst in jüngster Zeit wird diese Problematik in einer breiteren Öffentlichkeit auch

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