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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Sinne zur Kennzeichnung von Landesgrenzen verwandt. Erst später bezeichnete das Wort »Grenze« auch zeitliche Abschnitte und unterschiedliche sachliche Bereiche. Nach dem Deutschen Wörterbuch von Trübner hat die Präposition »ent« in »entgrenzen« und »Entgrenzung« nicht die Bedeutung von »gegen« (wie etwa in »entgelten«), kennzeichnet auch keine Trennung (wie in »entfernen« oder »entführen«), sondern drückt (wie zum Beispiel in »entehren« oder »enterben«) ein Rückgängigmachen aus. »Entgrenzung« meint also von der Sprachwurzel her soviel wie das Rückgängigmachen einer Grenzziehung, Unterschiedenheit und Abgrenzung und zielt auf die Beseitigung und Auflösung von Grenzen (weshalb »Entgrenzung« im Englischen »dissolution of boundaries« heißt).
    Dem Begriff Entgrenzung ist bereits sprachlich eine emphatische und programmatische Bedeutung eigen: Wer von Entgrenzung spricht, will etwas rückgängig machen und bisherige Grenzziehungen, Einschränkungen, Bindungen zugunsten von mehr Freiheit in Frage stellen, überwinden und beseitigen. Damit unterscheidet sich der Begriff der Entgrenzung vom Begriff der Grenzüberschreitung oder Transzendenz (wovon ausführlich in Kapitel 9 zu sprechen sein wird). Bei der Grenzüberschreitung geht es zwar auch um das Überwinden und Hinter-sich-Lassen von Grenzen, aber eben nicht dadurch, dass man sie beseitigt oder verleugnet, sondern dadurch, dass man sie transzendiert; die zu überwindende Grenze als solche hat bei der Grenzüberschreitung Bestand, doch lässt man sie durch den Akt des Transzendierens hinter sich. Entgrenzung ist schließlich auch etwas
anderes als Grenzverletzung . Wer Grenzen verletzt, stößt sich an bestehenden Grenzziehungen und ist damit beschäftigt, gegen sie zu verstoßen, ohne dass damit deren Beseitigung intendiert sein muss.
    Zur Vorstellung einer Grenzenlosigkeit als (räumlicher) Unbegrenztheit und (zeitlicher) Unendlichkeit hat der Begriff der Entgrenzung eine große Affinität. Entgrenzung zielt in erster Linie auf das Beseitigen von Grenzen, womit nicht nur die Überwindung bestimmter Grenzen, sondern meist auch eine Grenzenlosigkeit erstrebt wird. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich der Begriff der Entgrenzung von dem der Grenzüberschreitung oder Transzendenz. Diese meint immer das Überschreiten von Möglichkeiten und Grenzen auf neue Möglichkeiten und Grenzen hin, die angesichts der bisher gültigen Grenzen des Möglichen als nicht möglich erlebt wurden.
    Die von Soziologen und Denkern der Postmoderne ebenfalls gerne benutzten Begriffe der Flexibilisierung, Pluralisierung, Auflösung, Erosion, Diffusion sowie die Metapher der Verflüssigung treffen alle nicht das Spezifikum des emphatischen Entgrenzungsbegriffs: Wer entgrenzen will, stößt sich an einer Grenze, Begrenztheit, Bedingtheit, Verbindlichkeit, einem Angewiesensein oder einer Abhängigkeit und will diese aus der Welt schaffen. Für den emphatischen Entgrenzungsbegriff stellt jede Art Grenze eine Einschränkung von Freiheit, Autonomie, Kreativität und Entwicklungsmöglichkeit dar. Entgrenzung zielt darum auf die Beseitigung von Grenzen und bläst zum Angriff auf die Grenzzieher und Grenzwächter sowie auf die Symbolisierungen und Personifizierungen von Wertorientierungen und Moralen, die auf die Einhaltung und Respektierung von Grenzen pochen. Mit Recht kann man deshalb von einem Entgrenzungsdenken und einem Entgrenzungsglauben sprechen.

IDEENGESCHICHTLICHES ZUM ENTGRENZUNGSDENKEN
    Auch wenn das Entgrenzungsdenken neueren Datums ist, so ist es doch ein Kind der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte. Es ist das Ergebnis einer Entwicklung, die in der abendländischen Kultur am Ausgang der »Vormoderne« begann und in der »Moderne«, »Zweiten Moderne« oder »Postmoderne« die letzten Bindungen an vormoderne Begrenztheiten zu überwinden trachtet. Der Unterschied zwischen Vormoderne und Moderne lässt sich so verdeutlichen: Der vormoderne Mensch lebt in einem festen Gefüge der Gesellschaft und Weltsicht, das in seinem Bestand durch die Gesetze von Natur, Gesellschaftsordnung und Tradition garantiert wird. Er ist so sehr ein Teil dieser Ordnung, dass das Bild, das er von sich hat, und seine Selbstwahrnehmung weitgehend durch die Vorstellungen und Vorgaben dieser Garanten definiert werden. Eigener Wille, persönliche Freiheiten und Rechte, Unabhängigkeit von bevormundenden Institutionen und andere Aspekte von Individualität und Selbstbestimmung

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