Der entgrenzte Mensch
werden über Jahrhunderte erst mühsam erkämpft und zeichnen das aus, was »Moderne« genannt wird.
Wolfgang Bonß, der zusammen mit Ulrich Beck und Heiner Keupp über das Themenfeld »Reflexive Modernisierung« forschte, formuliert als Resümee der Forschungen zum Unterschied moderner Gesellschaften gegenüber vormodernen, dass moderne Gesellschaften auf Veränderung angelegt sind. »Vormoderne Gesellschaften haben sich zwar auch geändert. Sie haben sich aber gegen jede Veränderung zu sperren versucht, weil ihre regulative Leitidee eine unveränderliche Ordnung war. In den modernen Gesellschaften ist es genau umgekehrt. Hier geht es darum, Dynamik zu erzeugen und Strukturen zu verflüssigen...« (Bonß 2010, S. 80.) Die Moderne zielt nicht auf Ordnungserhalt und Sicherung des Status quo, sondern auf Veränderung. Wie sehr Veränderung das Denken und Handeln des gegenwärtigen
Menschen bestimmt, zeigt sich etwa darin, dass Barack Obama die Amerikaner auf »Change« eingeschworen hatte, um Präsident zu werden, oder dass die »Exzellenz-Strategien« von Unternehmensberatungen auf »Change« setzen. Nicht der Erhalt des Bestehenden, sondern die permanente Änderung ist die Leitidee der Moderne.
Lange Zeit artikulierte sich die auf Veränderung zielende Leitidee der Moderne im Fortschrittsdenken , das besonders überzeugend im technischen Fortschrittsglauben und in den großen utopischen Gesellschaftsentwürfen repräsentiert ist. Zwar hat das Fortschrittsdenken noch immer eine große Bedeutung als Konkretisierung der Leitidee »Veränderung«, doch wird es Stück um Stück durch das Entgrenzungsdenken ersetzt. In der Auflösung des »Eisernen Vorhangs« und im Fall der innerdeutschen Mauer im Jahr 1989 hat dieser Wechsel vom Fortschrittsdenken zum Entgrenzungsdenken eine historische Datierbarkeit und sinnenfällige Anschaulichkeit erhalten: Das Ende der fortschrittsgläubigen Gesellschaftsutopie »real existierender Sozialismus« wurde durch einen Entgrenzungsakt besiegelt.
So einig sich die Theoretiker der Moderne hinsichtlich des Unterschieds zur Vormoderne sind, so vielfältig sind die Vorstellungen über die Moderne und deren Entwicklung sowie über die »Trennschärfe« des Begriffs »Entgrenzung«. Postmoderne Philosophen wie Jean-François Lyotard (1999) fordern die Überwindung jeglicher Grenzziehungen im Dienste einer bestimmten historischen Rationalität oder um zu allgemeinen und definitiven (= abgrenzenden) Aussagen zu kommen. Die philosophischen Systeme der Moderne mit ihren verallgemeinernden Aussagen müssen überwunden werden, da sie nie der Heterogenität der Wirklichkeit gerecht werden können. Für ihn kann die Ausgrenzung des Heterogenen nur durch die postmoderne Entgrenzung aller Vorgaben und allgemeingültigen Aussagen überwunden werden.
Durch solche postmoderne Kritik an der Moderne fühlen sich auch alle provoziert, deren Wissenschaft um eine historische
Rationalität unter Anerkennung von Pluralität und Heterogenität bemüht ist. So kommen die Soziologen, die das Projekt der reflexiven Modernisierung befördern, zur Unterscheidung zwischen einer Ersten Moderne und einer Zweiten Moderne, wobei sie einräumen, dass die Soziologie der Ersten Moderne mit ihrem Denken in Standard- und Normalitätsformen auf Grenzziehungen und Ausgrenzungen aufbaute und deshalb weitgehend einer Entweder-Oder-Logik folgte. Aus soziologischer Sicht müsse es in der Zweiten Moderne um die uneingeschränkte »gesellschaftliche Anerkennung von Pluralität und Ambivalenz« (im Sinne des Sowohl-als-Auch) gehen (Beck/Bonß/Lau 2004, S. 25). Die »Diagnose der Postmoderne, wonach Unterscheidungen ganz allgemein aufgehoben würden, ist aus soziologischer Sicht (jedoch) nicht vertretbar.« (A.a.O., S. 49.) Jede »Strukturverflüssigung« und Entgrenzung verschärfe im Gegenteil den Zwang, »Entscheidungen treffen und neue Grenzen ziehen zu müssen« (a.a.O., S. 19).
Gesellschaftliches, zumal ordnungspolitisches Handeln ist ohne abgrenzende Unterscheidungen nicht möglich, und nur durch solche Unterscheidungen kann man in einer pluralen Gesellschaft möglichst vielen Einzelnen gerecht werden. »Die Auflösung alter Grenzen und Unterscheidungen muss durch neue (...) provisorischere, moralisch und rechtlich pluralere Ab- und Eingrenzungen ersetzt werden«. Institutionen müssten lernen, »wie mit Unsicherheit, Ungewissheit und Ambivalenz umzugehen ist.« Entgrenzung soll »als Erweiterung von Handlungsoptionen
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