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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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in den ersten Lebensjahren aus und befähigt den Menschen zu einer nicht-entstellten Wahrnehmung von und zu eigenständigen und realitätsangepassten Urteilen über sich und die ihn umgebende Wirklichkeit. Wird diese Unterscheidungsfähigkeit in den ersten Lebensjahren nicht in dem erforderlichen Maß ausgebildet, kommt es zu Defiziten bei der Persönlichkeitsbildung. Bekannt ist hier vor allem die verzerrte Wirklichkeits- und Selbstwahrnehmung narzisstischer Menschen und das realitätsunangepasste Gefühlserleben bei Menschen mit einer Borderlinestörung.
    Unsere Wahrnehmungen und Urteile auf ihre Realitätsangepasstheit hin überprüfen zu können, setzt voraus, dass wir uns das »kritische« (vom griechischen ›krinein‹ = unterscheiden) Vermögen, das heißt die Fähigkeit zum und das Interesse am Unterscheiden erhalten. Denn die Fähigkeit zur Realitätsprüfung hat für das Gelingen des Lebens und Zusammenlebens und für das Überleben des Menschen einen sehr hohen Stellenwert. Mit ihr vermögen wir den Unterschied und Anspruch zwischen Innen und Außen, Vorgestelltem und Realem, Realem und Irrealem, Normalem und Verrücktem, Traum und Faktizität, Sinneswahrnehmung und Halluzination, zwischen Wunschwelt, Fantasie, Magie und Realität zu erkennen und abzuwägen.
    Die Realitätsprüfung dient so dazu, Schein von Wirklichkeit, Suggeriertes von Echtem, Erstrebenswertes von zu Vermeidendem
zu unterscheiden. Mit ihrer Hilfe wissen wir zwischen Mein und Dein zu unterscheiden, können wir spüren, ob unser Körper oder unsere Überzeugung etwas Unveräußerliches und zu uns Gehörendes ist, oder ob wir sie als etwas uns Äußerliches haben; mit ihr lassen sich Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges als unterschiedliche Dimensionen vorstellen und voneinander abgrenzen, lässt sich Gewachsenes und Gewordenes von Hergestelltem unterscheiden und können die Folgen aktueller Entscheidungen für die Zukunft vorgestellt werden. Kurzum: Die Realitätsprüfung ist eine zentrale Funktion des Ichs. Ihre Entgrenzung bedeutet immer, dass das Unterscheidungsvermögen reduziert und damit die Lebenstüchtigkeit verringert wird.

TRADITIONELLE METHODEN, DIE REALITÄTSPRÜFUNGZU ENTGRENZEN
    Wie bei der Entgrenzung der Realität so gilt auch bei der Entgrenzung der Realitätsprüfung, dass Menschen schon immer Wege gefunden und praktiziert haben, um die Prüfung der Realität zu entgrenzen und zu schwächen, und dies oft aus guten Gründen. Denn die Realitätsprüfung kann auch durch Ängste, Zwänge und Hemmungen überzogen und rigide sein. Dies gilt insbesondere im zwischenmenschlichen Bereich, wo Misstrauen, Vorurteile, Zweifel mitunter zu einer überzogenen Realitätsprüfung und damit meist zu distanzierenden und gehemmten sozialen Beziehungen führen. Viele psychotherapeutische Verfahren setzen deshalb gezielt Techniken zur Reduktion der Realitätsprüfung ein, um in Bereiche vorzustoßen, die dem Wachbewusstsein vorenthalten werden. Die bekanntesten sind hier das regressionsfördernde
Setting in der Psychoanalyse, die mit Trance und Hypnosetechniken arbeitenden Therapien (in Anschluss an Milton Erickson) und psycholytische (»die Seele lösende«) Verfahren, bei denen mit psychoaktiven Substanzen wie LSD, MDMA (meist in Ecstasy) oder Psilocybin halluzinogene Effekte erreicht werden (Jungaberle et al. 2008), die ebenso die Realitätsprüfung aufheben und Zugänge zu unbewussten Prozessen schaffen.
    Neben dieser fachlich-therapeutischen Reduktion der Realitätsprüfung gab es schon immer in religiösen Zusammenhängen oder in Heilungs-Ritualen genutzte Verfahren, bei denen die Reduktion oder Aufhebung entweder im Rausch, in der Trance oder im Traum gesucht wurde. Zustände von Rausch und Trance wurden und werden hierbei mit Hilfe psychotroper Substanzen und/ oder exzessiv praktizierter Rituale, Bewegungen, Geräusche, Gesänge und Handlungen erzielt. Meist wird bei der Diskussionen über Drogenabhängigkeit und Alkoholismus vergessen, dass der Rausch nicht automatisch ein Indiz für eine Abhängigkeitserkrankung ist. Im Gegenteil, für den Alkoholabhängigen selbst gilt ebenso wie für den Beobachter von Süchtigen: »Süchtiges Trinken ist rauschloses Trinken.« (Wernado 2010, S. 17.)
    Im gegenwärtig so verbreiteten Rauschtrinken (»Komasaufen«, »binge-drinking«) bei Kindern und Jugendlichen wird in erster Linie die Entgrenzung der Realitätsprüfung bis zur Bewusstlosigkeit gesucht. Denn so enorm laut Statistischem

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