Der entgrenzte Mensch
zu ihm passend übernommen werden, weil Werbung und Marketing es schaffen, sie ihm als seinen individuellen Realitätsvorstellungen entsprechend schmackhaft zu machen. Die
die Realitätskonstruktionen definierenden Inszenierungen und Virtualisierungen von Medien und Konsumangeboten treffen, wie bereits angedeutet wurde, auf ein individualisiertes Ich, das keinen sehnlicheren Wunsch hat, als - ich-orientiert und selbstbestimmt - wieder mit dem sozialen Wir verbunden zu sein und an dessen Realitätskonstruktionen Anteil zu haben. Jeremy Rifkin (2000, S. 322) brachte diese Sehnsucht nach dem Wir auf den Nenner: »Verbunden zu sein, macht frei.«
Natürlich ist beim Einzelnen der Zusammenhang von individueller und sozial vermittelter Realitätsprüfung noch einmal genauer zu bestimmen. Für die in kommunistischen Staaten praktizierte »Gehirnwäsche« war typisch, was auch heute noch für die meisten sektiererischen und fundamentalistischen Gruppierungen religiöser und politischer Provenienz gilt, dass eine individuelle Realitätsprüfung bei Androhung der sozialen und moralischen oder gar realen Liquidierung untersagt und eine linientreue Teilhabe an der Realitätskonstruktion des Kollektivs unverzichtbar ist. Angesichts der heute mit Hilfe der Vernetzung und Medien praktizierten Inszenierung der Wirklichkeit und Virtualisierung der Realität findet sozusagen auf freiwilliger Ebene etwas ganz Ähnliches statt, wenn auch mit dem Unterschied, dass die Abhängigkeit von den Wir-Mächten kaum zugegeben werden darf und die Illusion der Freiheit und Selbstbestimmung als überlebenswichtig erachtet wird. Auf diese Frage wird zurück zu kommen sein, wenn es um die Entgrenzung der eigenen Persönlichkeit und um das Leben in inszenierten und virtuellen Lebensweltkonstruktionen geht.
ENTGRENZUNG DURCH SIMULATION UND VIRTUALISIERUNG
Angesichts der heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten kommt der Frage der individuellen Realitätsprüfung eine erhöhte Bedeutung zu. Der Schein der mit anderen geteilten Wirklichkeit kann nämlich trügen und sich als Illusion entpuppen. Auch wenn es für uns keine Erkenntnis der Realität an sich gibt und wir immer nur eine bestimmte Realität in ihrem Sosein anhand ihrer Wirkungen zu erkennen imstande sind, sind wir doch fähig, diese mit Hilfe der Realitätsprüfung von Scheinrealitäten zu unterscheiden. Die elektronischen Medien ermöglichen heute Scheinrealitäten, die so realistisch gestaltet sind, dass sie der Realitätsprüfung nicht mehr zum Opfer fallen. Sie sind nicht mehr unterscheidbar und können deshalb an die Stelle einer bestimmten Realität treten.
Da digitale Technik fähig ist, Wirklichkeit virtuell herzustellen und mit Hilfe der elektronischen Medien so zugänglich machen kann, dass simulierte und reale Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden sind, stellt die Simulation auch eine Entgrenzung von Realität dar. Anders allerdings als die Entgrenzung durch Inszenierung, zielt die Entgrenzung durch Simulation darauf ab, die Überprüfung der simulierten Realität nicht nur zu erübrigen, sondern sie als Störfaktor der Simulation zu unterbinden. Ein angehender Fallschirmspringer übt nur dann erfolgreich seine Sprünge am Simulator, wenn der Simulator es tatsächlich schafft, die Situation für den Übenden als vollkommen realistisch erscheinen zu lassen und der Übende jeden (realitätsprüfenden) Gedanken daran, dass es ja nur eine Simulation, eine »spielerische« Übung sei und keine »blutige« Realität, völlig auszuschalten imstande ist. Gleiches gilt für den angehenden Chirurgen, der komplizierte Operationstechniken an Simulatoren übt, oder für den zukünftigen Flugkapitän eines Großraumflugzeuges. Ihnen soll ihr späteres tatsächliches Tun bereits so vertraut und in
»Fleisch und Blut« übergegangen sein, sprich zu eingespurten neuronale Verknüpfungen geführt haben, dass sie sich kognitiv, gefühlsmäßig und körperlich so erleben, als wenn sie die Operation oder den Flug schon fünfzig Mal erfolgreich absolviert hätten. Solches ist aber nur möglich, wenn die Simulation perfekt ist und der Mensch die simulierte Realität von der nicht-simulierten nicht mehr unterscheiden kann und deshalb auch keine Versuche macht, die simulierte Realität einer Prüfung zu unterziehen.
Die neuen Techniken bringen es mit sich, dass der Mensch zur Simulation selbst kaum etwas beitragen muss. Vielmehr hat er sich ganz der technischen Simulation zu überlassen und darf nie die
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