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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Bundesamt (Pressemitteilung 486 vom 15. Dezember 2009) die Zahl der 15-20-Jährigen gestiegen ist, die wegen des Rauschtrinkens stationär in Krankenhäuser aufgenommen werden mussten (von 7.329 im Jahr 2000 auf 21.197 im Jahr 2008), so ging der regelmäßige Alkoholkonsum unter Jugendlichen in den vergangenen Jahren stetig zurück. Dass das Rauschtrinken ein typisch jugendliches Entgrenzungsritual ist, zeigt sich auch darin, dass die 20-25-Jähringen »nur« in 10.354 Fällen wegen »akuter Alkoholintoxikation« ins Krankenhaus eingeliefert wurden. (Welche Rolle insgesamt der Alkohol und die Alkoholabhängigkeit in der bundesdeutschen Gesellschaft ansonsten aber spielen, wird daran
deutlich, dass der Krankenhausaufenthalt auf Grund von alkoholbedingten Krankheitsbildern an zweiter Stelle rangiert und knapp hinter Krankenhausaufenthalten wegen Herzinsuffizienz kommt.)
    Neben dem Rauschtrinken von Jugendlichen gibt es noch eine andere Form der Entgrenzung der Realitätsprüfung, die für diese Altersgruppe heute typisch ist: der Spaß an einem extremen Risikoverhalten (»no risk, no fun«; vgl. Fatke 2003). Wer auf U-Bahn- oder S-Bahn-Wagen surft, sich an illegalen Autowettrennen beteiligt, lebensgefährliche Mutproben absolviert, mit geschlossenen Augen eine stark befahrene Straßenkreuzung überquert oder auf andere Weise mit seinem Leben Russisch Roulett spielt, den reizt es, die Realitätsprüfung dadurch zu entgrenzen, dass er Regeln, die von allen fraglos beachtet und als lebensnotwendig anerkannt werden, miss achtet. Deshalb sind auch delinquente Verhaltensweisen Jugendlicher (wie Raub, Überfall und Körperverletzung) heute teilweise dem Risikoverhalten und dem Wunsch, die Realitätsprüfung zu entgrenzen, zuzuschreiben (und nicht einem pathologischen Bedürfnis, sich mit kriminellen Handlungen die Gesellschaft zur Verfolgerin zu machen und von ihr ausgeschlossen zu werden).
    So sehr das Rauschtrinken und das extreme Risikoverhalten die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so spielen der Konsum von halluzinogenen Drogen, aber auch häufig praktizierte nicht-stoffgebundene Verhaltensweisen (wie etwa das Glücksspiel) insgesamt eine größere Rolle beim Versuch, die Realitätsprüfung durch eine rauschhafte Entgrenzung auszuhebeln. Halluzinogene zeigen ähnliche Wirkungen wie bestimmte neuronale Botenstoffe. So ähneln etwa »LSD und Psilocybin dem Serotonin, Meskalin dem Adrenalin und Atropin und Scopolamin dem Acetycholin. Neurotransmitter beschleunigen die Nervenleitung und damit die Sinneswahrnehmung und die zerebrale Verarbeitung« (Revenstorf 2006, S. 235) und schalten auf diese Weise die Realitätskontrolle aus. (Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle auch an die Möglichkeit erinnert, mit Schlafmitteln und
Narkotika den Wachzustand und damit die Realitätsprüfung zu entgrenzen, wovon eingangs im Zusammenhang mit Michael Jackson die Rede war.)
    Entgrenzende Rauschzustände ohne psychoaktive Substanzen spielen heute eine mindestens ebenso große Rolle wie solche mit Drogen (vgl. Batthyány/Pritz 2009). Sie lassen sich durch ein Verhalten herstellen, das exzessiv lange, häufig, intensiv und oft mit hohem Risiko ausgeführt wird. Ein solches Verhalten führt zu körpereigenen biochemischen Veränderungen und in deren Folge zu anderen Bewusstseinszuständen. Diese ähneln neurologisch Zustandsveränderungen, die mit psychotropen Substanzen herbeigeführt werden. Beispiele für rauscherzeugendes Verhalten sind exzessives Arbeiten, Sporttreiben (»exercise addiction«, »runner’s high«), Spielen (»Pokern bis zum Umfallen«, Rollenspiele, Glücksspiele), exzessive sexuelle Betätigung (»Paraphilie«), süchtiges Kaufen und grenzenloses Internetsurfen. Der Übergang von solchen exzessiven Verhaltensweisen zu einer substanzungebundenen Sucht ist dabei fließend: »Beginnt der Rauschzustand die Herrschaft über den Willen dauerhaft zu übernehmen, sprechen wir von Sucht.« (A.a.O., S. V.)
    Rausch- und Trancezustände sind besonders eindrückliche Möglichkeiten, die Realitätsprüfung zu entgrenzen. Sie ermöglichen erweiterte Erlebensdimensionen, die mit der »harten«, unerträglichen, enttäuschenden, gefühllosen oder leblosen Realität nichts mehr zu tun haben. Sie machen einen aber gleichzeitig immer untauglicher, die alltäglichen Grenzen der eigenen Wirklichkeit und der einen umgebenden Welt noch zu ertragen.

    Noch eine andere traditionelle Möglichkeit der Entgrenzung der

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