Der entgrenzte Mensch
Realitätsprüfung soll erwähnt werden, bevor die Entgrenzung der Realitätsprüfung durch Simulation und virtuelle Realitäten thematisiert wird: die entgrenzende Wirkung des Massenerlebens und die damit einhergehende Entgrenzung der individuellen Realitätskontrolle. Die eigene Realitätsprüfung wird bereits entgrenzt, wenn wir uns am Tun von einigen anderen orientieren.
Wenn man zum Beispiel bei einer Urlaubswanderung in fremdem Land an einen See kommt, der zum Baden einlädt, wollen wir zunächst in Erfahrung bringen, ob dieser See zum Baden geeignet oder ob sein Wasser vielleicht in irgendeiner Form verunreinigt und er darum zum Baden ungeeignet ist. Sobald man sieht, dass sich bereits andere im See tummeln, erübrigt sich eine eigene Realitätsprüfung weitgehend.
Die Orientierung am Tun anderer hinsichtlich der Realitätsprüfung lässt sich besonders eindrücklich bei sportlichen, religiösen, politischen oder musikalischen Massenveranstaltungen beobachten. Halten sich die meisten Menschen mit ihren Überzeugungen und Meinungen, vor allem aber mit ihren stimmlichen und körperlichen Gefühlsäußerungen als Einzelne gewöhnlich zurück, so ermöglichen gemeinschaftliche Veranstaltungen eine andere soziale Wirklichkeit. In dieser vermag der Einzelne aus sich herauszugehen, kann er sich von einer Stimmung anstecken lassen, mittanzen, mitsingen, sich mitbewegen und eine Sozialität ausleben, die ihm sonst nicht möglich ist. Das angesichts der wachsenden Vereinzelung immer wichtiger werdende Zusammensein mit »Gleichgesinnten« im Stadion, bei der »Großdemo« oder bei der Evangelisationsveranstaltung dient allerdings auch zu einer weitgehenden Entgrenzung und Enthemmung der sonst individuell praktizierten Prüfmechanismen. Die Vielen liefern sich dann bedenkenlos den Meinungs-, Stimmungs-, Gefühls- und Eventmachern, aber unter Umständen auch den Ideologen, Kriegstreibern und Rattenfängern aus. Die massenpsychologische Logik lautet ganz einfach: Wenn es alle machen, ist diese Realität geprüft.
Auch wenn die Frage des Zusammenhangs von individueller und sozial vermittelter Realitätsprüfung hier nicht Thema ist, so soll sie unter dem Aspekt der Entgrenzung wenigstens ansatzweise angesprochen werden. Der für die neuzeitliche, westlichabendländische Entwicklung typische Individualisierungsprozess lässt sich auch als ein tief greifender Entgrenzungsvorgang der Realitätsprüfung verstehen. Solange sich der Einzelnen in erster Linie als Teil eines kollektiven Wir versteht, definieren sich die
Inhalte seiner Realitätsprüfung weitgehend vom Welt-, Gemeinschafts- und Selbstverständnis dieses Wir her, das seinen Zusammenhalt einer vorgegebenen Ordnung und Tradition und der sie repräsentierenden Mächte (Religion, Kirche, Landesherrn usw.) verdankt. Mit dem neuzeitlichen Individualisierungsprozess kommt es - in mühsamen Befreiungskämpfen gegen die Bevormundungen durch das Wir und der sie repräsentierenden Kräfte - zu einer immer umfassenderen Realitätsprüfung durch ein erstarkendes individuelles Ich, das es wagt, unabhängig vom Wir selbst wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, zu urteilen und zu Entscheidungen zu kommen.
Diese Entgrenzungsdynamik der Realitätsprüfung vom kollektiven Wir zum individuellen Ich, die die moderne Emanzipations-und Freiheitsgeschichte kennzeichnet, scheint sich gegenwärtig in ihr Gegenteil zu verkehren. Dabei lassen sich die Massenmedien als eine treibende historische Kraft für eine Entgrenzung der Realitätsprüfung vom individuellen Ich zum kollektiven Wir ausmachen. Auch wenn man hier zuerst an die »Gehirnwäsche« der Printmedien denken mag und an das von Noam Chomsky so brillant beschriebene »manufacturing consent« (Chomsky und Herman 1988), so haben die elektronischen Medien mit ihren Inszenierungs- und Virtualisierungsmöglichkeiten tatsächlich einen sehr viel größeren Einfluss darauf, das, was Realität ist, zu definieren und die individuelle Realitätsprüfung über das inszenierte soziale Wir zu bestimmen. Medien definieren deshalb mit ihren Realitätskonstruktionen nicht nur, was wirklich ist, sondern haben Dank ihrer Machtstellung auch die Deutungshoheit über ihre Realitätskonstruktionen.
Bereits angesprochen wurde das Bestreben der Wirtschaft, Wirklichkeiten in Gestalt von Lebenswelten, Lifestyles und Erlebniswelten zu verkaufen. Damit offeriert sie für die jeweiligen Zielgruppen passgenaue Realitätsentwürfe, die vom Konsumenten deshalb als
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