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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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dass meist nur untersucht wird, was man messen kann. Außerdem orientieren sich die Theorien weitgehend nur an den »gesicherten Daten«, sprich an der Quantifizierbarkeit
des Untersuchungsgegenstands, während interpretative Ansätze und darauf aufbauende psychologische Erklärungsversuche weitgehend unberücksichtigt bleiben.)
    Der Mensch besitzt auf Grund seines Vorstellungsvermögens schon immer die Fähigkeit zur Entgrenzung der Realität und hat schon immer Angebote inszenierter Wirklichkeit - wie etwa das Heldenepos - wahrgenommen, um an Erfahrungen entgrenzter Realität partizipieren zu können. Neu ist, dass Dank der elektronischen Medien jede und jeder zu jeder Zeit und an jedem Ort in den Genuss solcher Inszenierungen von Wirklichkeit kommen kann. Es gibt keine Abhängigkeit von besonderen Personen, Orten, Situationen, Institutionen und medialen Fähigkeiten, sondern nur die von elektronischen Medien. Neu ist auch, dass das Angebot an inszenierten Wirklichkeiten so breit ist, dass für jede Stimmung, Bedürfnislage, Situation und Geschmacksrichtung die gewünschte Inszenierung gefunden werden kann. Eine folgenreiche Neuerung ist außerdem die technische Raffinesse der Inszenierungen: Mit Hilfe von Tönen, Geräuschen, Musik, Gesang, Farben, Licht- und Beleuchtungseffekten, Bewegung, Tricks, Kameraführung, Zoomtechnik, Bildschnittfolgen, Überblendungen usw. lässt sich Wirklichkeit so überwältigend und mitreißend inszenieren, dass die eigene Fantasietätigkeit völlig ins Hintertreffen gerät. Genau dies führt aber dazu, dass die medial inszenierten Wirklichkeiten für viele attraktiver sind als die eigenen Fantasieprodukte und dass die Konsumenten inszenierter Wirklichkeiten, eben weil sie nur noch passiv Fantasie konsumieren, selbst immer fantasieloser werden.
    Dies muss nicht so sein, denn die vielfältigen Angebote entgrenzter Realität haben zunächst den Effekt, die Menschen herauszufordern. Der Abgleich von neuen Bildern entgrenzter Realität mit den verinnerlichten hält sie dazu an, die Plastizität des Gehirns zu nutzen (macht sie also neugierig und lernbereit) und die bisherigen inneren Erfahrungsbilder durch die Ausbildung neuer zu relativieren und schließlich abzulösen. Tatsächlich ist dies ja auch das besondere Kennzeichen von Menschen, die
sich den Herausforderungen einer entgrenzten Wirtschaft und Arbeitswelt und einer ebensolchen Gesellschaft und Kultur stellen: Sie zeichnen sich durch eine gesteigerte Bereitschaft und Fähigkeit, sich anzupassen und zu lernen aus; sie erfassen rasch eine Situation, sind schnell von Begriff und reaktionsfreudig; sie nehmen wenig Rücksicht auf Gewachsenes, sind ungebunden und scheuen Verbindlichkeiten; sie sind risikobereit und stehen mit entgrenzten Wirklichkeiten auf Du und Du.
    Der Umgang mit entgrenzter Realität in Gestalt von inszenierten Wirklichkeiten kann aber auch ganz andere Effekte haben. So können inszenierte Wirklichkeiten dazu dienen, sich bestimmten Aspekten der Realität nicht stellen zu müssen. Gerade bei Menschen, die mit ihren eigenen Schwächen und Grenzen nicht klar kommen und deshalb in selbst erzeugte, mehr oder weniger narzisstische Größenfantasien schwelgen müssten, bieten die elektronisch angebotenen Inszenierungen eine Möglichkeit, sich großartig zu fühlen, ohne grandios zu sein. Diese Möglichkeit der Realitätsflucht und des Eskapismus gilt aber nicht nur für narzisstische Menschen, sondern ganz allgemein: Statt das eigene Versagen, die eigenen Fehler, feindseligen oder egoistischen Wünsche zu spüren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, flieht man in eine oft schnulzig und sentimental inszenierte Welt, in der das Leben gelingt, die größten Könner am Werk sind, die Menschen sich lieben und füreinander da sind.
    Die Bevorzugung inszenierter Wirklichkeiten kann aber auch dem Zweck dienen, dass man das, was man sich nicht im beruflichen und familiären Kontext zu spüren und auszuleben traut, delegiert und in den inszenierten Wirklichkeiten stellvertretend ausleben lässt. Wie bedeutsam diese stellvertretende Funktion inszenierter Wirklichkeiten ist, zeigt sich an den hohen Einschaltquoten von Kriegsfilmen, Krimis und Actionfilmen, weil dort - legitimiert durch die Überführung des Bösen und den Sieg des Guten - die ganze Brutalität, Gemeinheit und Destruktivität miterlebt werden kann. Gleiches gilt für die Beliebtheit von Vorabendserien, in denen die Liebes-, Erziehungs- und Familienprobleme
von

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