Der entgrenzte Mensch
Frage stellen, was nun Realität und was simuliert ist. Das Eintauchen in virtuelle Realitäten, die mittels digitaler Technik und elektronischen Medien hergestellt wurden, verlangt deshalb als einzige Voraussetzung die Unterdrückung der Realitätsprüfung.
Da der allgemeine Gebrauch der Worte »Simulation« und vor allem »virtuell« und »virtuelle Realität« oft wenig präzise ist, sollen diese Begriffe hier noch genauer gefasst werden. Generell versteht man unter »Simulation« eine experimentelle Methode, bei der das Verhalten eines Systems oder eines Prozesses nachgeahmt wird. Im technischen Bereich wären viele Projekte etwa der Weltraumforschung nicht möglich ohne elektronische Simulationsexperimente. Die segensreichen Auswirkungen einer computergesteuerten Simulationstechnik zeigen sich auch in ganz alltäglichen Anwendungen, etwa bei der Frage, ob ein Regal oder eine Couch in einen bestimmten Raum passt. Mit Hilfe entsprechender Programme kann die Raumwirkung dieser oder jener Couch genau simuliert werden und festgestellt werden, ob das Regal mit Holz- oder Glastüren versehen sein soll oder nicht und wo es am besten zu stehen kommt. Wo immer das reale Ausprobieren zu gefährlich, zu teuer, kaum zu bewerkstelligen, nicht direkt zu beobachten, zu umständlich oder ethisch nicht zu rechtfertigen wäre, helfen Simulationen weiter.
Während es Simulationen auch unabhängig von Computertechnik und elektronischen Medien gibt, machen die Begriffe
»virtuell«, »Virtualität« und »virtuelle Realität« nur im Kontext medialer Nachahmung von Realität Sinn. Dabei versteht man unter »virtueller Realität« etwas, das in Wirklichkeit nicht in der Form existiert, in der es zu existieren scheint, aber alle Funktionen und Wirkungen einer solchen Realität zeigt . Der Gegenbegriff zu »virtuell« ist deshalb nicht »real«, sondern »physisch«: Das Virtuelle gibt es »in Wirklichkeit« nicht, hat aber (nach Möglichkeit) in der Wahrnehmung durch den Menschen alle Anzeichen und Erkennungsmerkmale der Realität. Diese klare Definition bringt es mit sich, dass andere Möglichkeiten der Entgrenzung von Realität wie die »erweiterte Realität« (»augmented reality« und »enhanced reality«) zwar eine Erweiterung der Realitätswahrnehmung durch Computerunterstützung oder mit Hilfe von »cognitive enhancers« wie Modafenil (»Gehirndoping«) bewirken, aber keine Phänomene virtueller Realität sind. (Dagegen scheinen die Begriffe der »Hyperrealität« und »surplus-reality« auch auf virtuelle Entgrenzungen anwendbar zu sein, während der Begriff »Fiktion« sowohl inszenierter Wirklichkeit als auch virtueller Realität zugeordnet werden kann.)
Virtuelle Realitäten sind Simulationen und unterscheiden sich von inszenierten Wirklichkeiten. Diese gibt es durch eigene Fantasietätigkeit oder über öffentliche bzw. medial angebotene und konsumierbare Fantasieproduktionen. Sie haben sehr unterschiedliche Realitätsgehalte und wollen Zugänge zu Wirklichkeiten (und Parallelwelten) schaffen, die entweder im Alltagserleben verborgen sind oder eine Wunschwelt zum Ausdruck bringen. Inszenierte Wirklichkeiten haben aber immer auch mit der Realität und mit realen Möglichkeiten zu tun. Selbst wenn sie völlig fantastisch und irreal sind, zielen sie nicht darauf, die Realitätsprüfung auszuschalten. Eine perfekt konstruierte und medial präsentierte virtuelle Realität ist in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil: Sie soll so real wie möglich sein und möglichst keinerlei Anlass für eine Realitätsprüfung bieten. Eben weil - wie in dem Film »Matrix« veranschaulicht - kein Unterschied zwischen virtueller (simulierter) und realer Welt erkennbar ist und es in der
simulierten Realität genau wie in der realen Welt zugeht, findet keine Realitätsprüfung und Infragestellung hinsichtlich der Virtualität statt.
Eine derart perfekte Simulation hat zur Voraussetzung, dass der Mensch in besonderer Weise in diese Virtualität eingebunden ist. Da seine einzige »Leistung« die Unterdrückung der Realitätsprüfung ist, muss vom Technischen her dafür Sorge getragen werden, dass sich das »Gefühl der Immersion«, also des Eintauchens in die simulierte Welt einstellt, um ein ununterschiedener Teil der virtuellen Realität zu werden. Die virtuelle Welt muss in »Echtzeit« (mit mindestens 25 Bildern pro Sekunde) und möglichst dreidimensional konstruiert sein und wahrgenommen werden können. Hierzu gibt es verschiedene technische
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