Der entgrenzte Mensch
Lösungen (am Kopf angebrachte Displays, Shutterbrillen, Polfilter, Großbildleinwände usw.). Eine besondere Rolle spielt bei vielen Anwendungen die Interaktivität, wozu spezielle Eingabegeräte (Spacemouse, Datenhandschuh usw.) benötigt werden. Auch braucht es Avatare (künstliche dreidimensionale Figuren), die im elektronischen Medium agieren und die eigene Rolle übernehmen. Sie werden vom virtuellen Subjekt, bei einem Spiel also vom Spieler, per Eingabegerät zum Handeln gebracht.
Eine der derzeit bekanntesten virtuellen Welten ist »Second Life« (SL), eine seit 2003 online zugängliche dreidimensionale Welt, in der anstelle des Users Avatare handeln, Land besitzen, Geschäfte erledigen, Dienstleistungen anbieten, miteinander kommunizieren, Rollenspiele machen oder virtuelle Objekte und Instrumente konstruieren. Zu dieser virtuellen Parallelwelt haben inzwischen ca. 15 Millionen »Bewohner« genannte Nutzer Zugang; im Durchschnitt sind ca. 60.000 Bewohner eingeloggt. Für viele besteht der Reiz von SL darin, der eigenen Kreativität ohne Rücksicht auf die in der »realen« Welt üblichen Begrenztheiten Raum geben zu können. Die virtuelle Welt kann von jedem ganz nach Belieben gestaltet werden. Jeder kann seinen Avatar anhand von 200 Gestaltungsparametern selbst erfinden. Über die Gestaltung des Augenabstand, des Kopfes, der Extremitäten, des
Fells oder was immer wird er unverwechselbar. Seine Körperteile können auch aus irgendwelchen Objekten bestehen. Er lässt sich animieren, so dass er charakteristische Körperhaltungen, Gesten, Lauf- und Flugbewegungen zeigt. Die Attraktivität dieser virtuellen Parallelwelt ergibt sich aus der Möglichkeit, völlig selbstbestimmt in eine Welt einzutauchen und darin aktiv zu sein - eine Welt, die Dank Simulationstechnik als andere »echte« Welt real erlebt wird. In ihr kann man jene Fähigkeiten ausleben, die in der »realen« Welt nicht gefragt oder tabuisiert sind. Vor allem aber dient die virtuelle Parallelwelt dazu, um mit anderen Menschen über deren Avatare zu kommunizieren.
Es ist vor allem der interaktive Aspekt, der das Ausschalten der Realitätsprüfung fordert und der zu Veränderungen bei den Nutzern virtueller Realitäten führt. Wer einen Krimi liest oder sieht und in die Welt inszenierter Gewalt eintaucht, muss kaum mit jenen Wirkungen rechnen, die das Eintauchen in einer virtuelle Realität und das eigene Handeln darin zeitigen. Denn diese verlangen, sich aktiv in der virtuellen Realität zu bewegen und sich nach den Regeln der virtuellen Welt zu verhalten: Man identifiziert sich mit einem Avatar, baut als Avatar eine Gesellschaft von friedliebenden Menschen auf oder verfolgt »ganz real« mit seinem Eingabegerät die »Bösen«, um sie mit tödlichen Waffen wirksam zur Strecke zu bringen. Die virtuelle Realität, von der man ein Teil ist, erlaubt es einem, zum Helfer der Menschheit, genialen Erfinder, kommunikationsfreudigen Abenteurer zu werden oder auch Krieg zu spielen oder Mörder zu sein, ohne dass noch erkennbar wäre, dass es (nur) ein Spiel ist. Genau diese Entgrenzung der Realitätsprüfung macht den »Reiz« virtueller Welten aus.
So nimmt es nicht Wunder, dass virtuelle Welten bevorzugt für jene menschlichen Bedürfnisse und Strebungen angeboten werden, deren Ausleben in der Realität gesellschaftlich tabu ist oder die man sich nicht traut. Neben Zerstörungswut, Gewaltexzessen, Rachefeldzügen, Sadismen und Missbrauchswünschen sowie alle Formen sexueller Befriedigung können auch Wünsche nach
Zärtlichkeit, echter Liebe, Wertschätzung, Glück, sozialem Friede, religiösem Heil usw. Inhalt simulierter Welten sein.
Virtuelle Welten verlangen eine aktive Identifizierung und Einwilligung, weshalb der amerikanische Science-Fiction-Autor William Gibson in seinem Roman Neuromancer (Gibson 1984) den Cyberspace als »consensual hallucination«, als Halluzination in gegenseitigem Einverständnis, beschrieben hat. Auch der Begriff »cyberspace« enthält dieses aktive, steuernde Moment, denn »cyber« ist eine Kurzform von »cybernatic«, so dass Cyberspace als Wechselbegriff für »virtuelle Realität« so viel wie »steuerbare Welt« meint. Auch wenn der Einzelne sich in virtuellen Realitäten wirkmächtig erlebt, so ist doch die Realität, in der er aktiv ist, eine simulierte und ist die Cyberwelt eine Halluzination. Sie unterscheidet sich von persönlichen Halluzinationen (in Gestalt von Stimmen, Bildern, Farben, Visionen) nur dadurch,
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