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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Schwächung des die Realität seines Verlangen prüfenden Ichs erkennbar. Sie zeigt sich darin, dass dieses Ich das begrenzte Leben immer weniger ertragen kann, so dass es den Drang verspürt, in immer kürzeren Abständen oder für längere Zeit in ein entgrenztes Leben eintauchen zu wollen. Die entscheidende Frage ist deshalb, welche Bedeutung und welchen Stellenwert das Eintauchen in virtuelle Welten für den betreffenden
Menschen haben und wie häufig er sich aktiv in simulierten Welten bewegt mit dem Ziel, die Zumutungen des Lebens oder auch inneren Belastungen (die einem durch die Realitätsprüfung nahegebracht werden) zu umgehen.
    An dieser Stelle ist noch einmal an den Unterschied zwischen Inszenierung und Virtualisierung und an ihre je unterschiedlichen Wirkungen zu erinnern. Bei der Entgrenzung der Realität durch die Inszenierung von Wirklichkeiten will man mit Hilfe eigener oder medial inszenierter Fantasiewelten die unvollkommen oder unerträglich erlebte Realität dadurch entgrenzen, dass man sich imaginierten Welten hingibt. Anders als bei einem Eintauchen in simulierte Welten bedarf es für das Leben in fantasierten Welten keiner Überwindung der Realitätsprüfung, sondern allein eines von der Realitätsprüfung geschützten Raums. Seit es Menschen gibt, hat diese geschützte Fantasiewelt (etwa in Gestalt von Märchen, Mythen und Epen) ihre Daseinsberechtigung neben der von der Realitätsprüfung kontrollierten Weltkonstruktion. Es ist deshalb keine Dynamik zu beobachten, dass häufige Aufenthalte in inszenierten Welten und Aufenthalte in Fantasiewelten zu gravierenden Einbußen bei der Realitätsprüfung und zu einer Schwächung des Ichs führen würden oder gar ein Suchtpotenzial in sich bergen. (Andere, nicht so gravierenden Folgen wie die Verträumtheit und eine unter Umständen eingeschränkte Alltagstauglichkeit solcher Menschen, sollen hier nicht erörtert werden.)
    Beim Leben in virtuellen Welten lässt sich hingegen eine Dynamik erkennen, die grundsätzlich auf die (meist partielle) Schwächung der Realitätsprüfung zielt und deshalb auch Folgen hat. Was hinsichtlich der traditionellen Methoden der Entgrenzung der Realitätsprüfung durch Rausch und Trance (herbeigeführt durch Drogen oder exzessives Verhalten) ausgeführt wurde, gilt auch für bestimmte Entgrenzungen der Realitätsprüfung durch Simulation und Virtualisierung mit Hilfe elektronischer Medien. Wenn sich die Räusche häufen, dann ist dies nicht nur ein untrügliches Zeichen für ein vermehrtes Entgrenzungsstreben, sondern auch für ein gesteigertes Verlangen, nicht mehr den Zumutungen
der Realitätsprüfung in bestimmten Bereichen ausgesetzt zu sein. Wer sich immer mehr nur noch in bestimmten virtuellen Welten aufhalten möchte, wird vom gleichen Drang geleitet, mit einer Grenzen zumutenden Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben zu wollen.
    Dass dem Leben in virtuellen Realitäten ein erhöhtes Suchtpotenzial innewohnt, hat noch einen anderen Grund. Wer in eine virtuelle Realität eintaucht, übereignet sich zwar voll und ganz der Konstruktion und Logik dieser simulierten Welt, doch in ihr wird ihm suggeriert, zugleich der »Cyberman«, das steuernde Subjekt zu sein, das alles im Griff hat und von dessen Aktivität alles abhängt. Er erlebt sich mächtig, wirksam, aktiv und als Herr der Verhältnisse. Ein ähnliches Macht-, Autonomie- und Aktivitätserleben lässt sich bei den traditionellen Entgrenzungsmethoden auch finden, allerdings in einer stärker maskierten Form. Es drückt sich im exzessiven Verhalten selbst aus sowie in der meist trügerischen Vorstellung, über die Droge und das exzessive Verhalten verfügen zu können, und zwar selbst dann noch, wenn aus dem »Bedürfnis nach« bereits eine »Abhängigkeit von« Entgrenzungserfahrungen geworden ist. Die Hauptaktivität der Betreffenden besteht dann vor allem darin, an den Stoff zu kommen bzw. sich Situationen zu sichern, in denen sie das exzessive Verhalten praktizieren können. Mit dem Gefühl, über Drogen oder virtuelle Welten verfügen zu können und der Steuernde und Aktive zu sein, müssen deshalb in Wirklichkeit meist unbewusste Gefühle der faktischen Abhängigkeit und Ohnmacht abgewehrt werden.

    Jede Entgrenzung der Realität schafft neue Möglichkeiten, Wirklichkeit zu gestalten, sich selbst autonom und wirkmächtig zu erleben und weiterzuentwickeln. Dies gilt auch für die virtuelle Entgrenzung der Realität sowie - erinnert sei an die Flugsimulatoren

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