Der entgrenzte Mensch
- für die Entgrenzung der Realitätsprüfung. Andererseits haben gerade die Überlegungen zur Entgrenzung der individuellen Realitätsprüfung deutlich gemacht, wie gefährdet die unverzichtbare
Fähigkeit des Menschen ist, Grenzen zu erkennen und mit Grenzen umgehen zu können. Davon wird noch eigens zu handeln sein.
Im den folgenden Abschnitten soll es um die Auswirkungen der heute möglichen Entgrenzungstechniken auf den Menschen gehen und jener Mensch skizziert werden, der sich mit den Möglichkeiten der Entgrenzung vorbehaltlos identifiziert und deshalb sämtliche Bezüge, in denen er lebt, zu entgrenzen versucht. Ein solcherart entgrenzter Mensch zeigt ein Entgrenzungsstreben, das auch alle Möglichkeiten der Selbstentgrenzung und der Neukonstruktion der Persönlichkeit auszuschöpfen trachtet.
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DER ENTGRENZTE MENSCH
Es war Erich Fromm, der als Soziologe und Psychoanalytiker in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts am Beispiel des autoritären Charakters erstmals sozialpsychologisch überzeugend darstellen konnte, in welcher Beziehung das Verhalten des Menschen zu den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Erfordernissen der jeweiligen Welt steht, in der er heranwächst und lebt. Neben biologisch-genetischen Determinanten bzw. Dispositionen und individuellen Umweltfaktoren - wie der Frage der konkreten Eltern- und Geschwisterkonstellation, der persönlichen Förderungen oder Belastungen oder der individuellen Bindungs- und Trennungserfahrungen - konnte Fromm theoretisch (Fromm 1936; 1941, S. 379-392) und empirisch (Fromm 1970; 1980) nachweisen, dass jeder Mensch über Assimilierungs- und Sozialisationsprozesse auch innere Verhaltensdispositionen entwickelt, mit denen er den Erfordernissen jener Lebenswelt gerecht wird, in der er lebt. Fromm nannte diese psychischen Verhaltensdispositionen »Gesellschafts-Charakterorientierungen«. Mit dem Begriff »Charakterorientierung« (statt »Persönlichkeitstypus«) unterstrich Fromm, dass solche Verhaltensdispositionen als - bewusste und unbewusste - leidenschaftliche Grundstrebungen zu verstehen sind, die sich in allen Äußerungsweisen des Denkens, Fühlens und Handelns eines Menschen zu manifestieren versuchen. Bei der autoritären
Gesellschafts-Charakterorientierung hatte Fromm beispielsweise als leidenschaftliche Grundstrebung den Wunsch, Herrschaft auszuüben (aktive Form), ausgemacht sowie den Wunsch, unterwürfig zu sein (passive Form).
Ohne näher auf die Frage einzugehen, wie im Einzelnen die Erfordernisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens verinnerlicht werden (vgl. ausführlicher Funk 2000; 2007, S. 72-83), interessiert hier vor allem, mit welcher leidenschaftlichen Grundstrebung Menschen von heute auf die Entgrenzungsphänomene in Wirtschaft, Arbeitswelt, Gesellschaft und Kultur reagieren. Denn dass das Eingebundensein in die umfassenden Entgrenzungsvorgänge und die Nutzung der technischen Wunderwerke der Entgrenzung ohne Folgen für die psychische Antriebsstruktur des Menschen und die emotionalen Zentren im Gehirn bleiben, ist kaum vorstellbar.
Geht man mit der neueren Gehirnforschung davon aus, dass die meisten Verhaltensäußerungen Ergebnisse von komplizierten neuronalen Verschaltungen mit den emotionalen Zentren sind, dann ist es sinnvoll, sozialpsychologisch nach einer neuen »Gesellschafts-Charakterorientierung« zu forschen, in der sich die äußeren Entgrenzungserfordernisse und -gegebenheiten als leidenschaftliches Entgrenzungsstreben ausdrücken. Dabei geht es um eine neue emotionale Grund strebung (»Orientierung«), die den unterschiedlichsten Verhaltensäußerungen vorausliegt und das Verhalten mit einem Wollen verknüpft, so dass mit dem Verhalten immer zugleich auch etwas bewusst oder unbewusst erstrebt wird. Eine solche neue emotionale Grundstrebung wurde in der von mir vorgelegten Psychoanalyse des postmodernen Menschen als »Ich-Orientierung« beschrieben (Funk 2005). Bei der nun folgenden Analyse des entgrenzten Menschen wird auf jene Aspekte des Ich-Orientierten Bezug genommen, die sein Entgrenzungsstreben begründen.
ENTGRENZUNG ALS LEIDENSCHAFT
Um die Leidenschaft genauer zu fassen, die den entgrenzten Menschen in der Tiefe motiviert und sein Verhalten disponiert, sei an das im Vorwort beschriebene persönliche Schlüsselerlebnis erinnert. Die treibende Kraft des jungen Mannes, der um zwei Uhr nachts auf einem dicht belegten Campingplatz Gitarre spielt, ist seine Lust an der Entgrenzung : Er
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