Der entgrenzte Mensch
dass sie nicht durch psychoaktive Substanzen, sondern durch ein aktives Eintauchen in Simulationsangebote erzeugt wird.
Ähnlich wie bei den inszenierten Wirklichkeiten hat auch die Attraktivität der virtuellen Realität zwei Gesichter: Auf der einen Seite ermöglicht die computermediale Simulation faszinierende Möglichkeiten der Einübung von kognitiven Fähigkeiten oder der Visualisierung von noch nicht realen Welten. Dies gilt nicht nur für die Forschung, für technische Vorhaben und die Ausbildung, sondern auch für die Persönlichkeitsbildung, wo in Rollenspielen Realität simuliert wird und persönliche und soziale Kompetenzen eingeübt werden können. Die neurowissenschaftlichen Forschungen lassen auch keinen Zweifel daran, dass virtuelle Aktivitäten stärker noch als Imaginationen zu neuronalen Veränderungen führen.
Virtuelle Realität ist simulierte Realität. Die elektronisch mit allen Finessen hergestellte virtuelle Realität suggeriert, »wirkliche« Realität zu sein. Das Suggestive simulierter Realität besteht darin, dass sie funktioniert und Wirkungen zeigt, es sie aber tatsächlich und physisch nicht gibt. Was also stimmt jetzt? Offensichtlich beides. Gemessen an der Realitätsprüfung ist sie
eine nur suggerierte, weil simulierte Realität. Gemessen an ihrer Funktionalität und an ihren Wirkungen zeigt sie alle Erkennungsmerkmale von Realität und vermag diese zugleich in ungeahnter Weise zu entgrenzen. Menschen, die auf Entgrenzung der Realität durch Simulation setzen, zeigen deshalb immer auch eine größere Offenheit für Suggestives und sind selbst suggestibler; gleichzeitig zeigen sie weniger Bereitschaft zur Kritik, weil Kritik, Unterschiedenheit und Unterschiedlichkeit Attribute der Realitätsprüfung sind, die für ein Leben in den simulierten Welten des Cyberspace (eben weil es dabei um eine »consensual hallucination« geht) nur hinderlich ist.
Allerdings wissen die Befürworter einer Entgrenzung durch Simulation ihre Positionen auch zu rechtfertigen: Sie halten die Frage nach der Wahrheit und den Versuch, Realität zu bewerten, für Relikte aus vergangenen Zeiten und als zu überwindende Instrumente von Herrschaftsausübung. Wer in virtuellen Welten lebt, soll und darf sich keine Gedanken über die Wahrheit und über das Woher, Wozu und Wohin machen, weil die Simulation nur funktioniert, wenn die virtuelle Realität echt und authentisch und deshalb fraglos ist (weshalb virtuelle Welten auch um den Nachweis ihrer Authentizität bemüht sind). Auch wird mit Recht argumentiert, dass die meisten Menschen sehr wohl imstande seien, zwischen der Realität und virtuellen Welten zu unterscheiden und auch problemlos zwischen Realität und Simulation hin-und her wechseln können, so dass ihre Realitätsprüfung durch den Aufenthalt in virtuellen Welten keinen Schaden nehme.
Um auf die Frage der unterschiedlichen Einschätzung der Wirkungen eines Lebens in virtuellen Welten eine befriedigende Antwort zu finden, ist es allerdings hilfreich, den neurobiologischen Befunden Rechnung zu tragen, wonach virtuelle Aktivitäten ganz ähnliche neuronale Wirkungen haben wie tatsächliche Aktivitäten. Aufgrund der nutzungs- und erfahrungsabhängigen Plastizität des menschlichen Gehirns führt jede Praxis von Aktivitäten, auch von virtuellen, zu einer Verstärkung der neuronalen »Einspurungen« und Verknüpfungen, die Nicht-Praxis zu einer
Verkümmerung derselben. Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen, dass »neue Informationen alte überlagern oder verdrängen (können) und die Nervenzellen sich während des gesamten Lebens modifizieren, axonale und dendritische Endigungen ein-oder ausfahren oder sogar ganz absterben« (Markowitsch 2009, S. 35). Dabei spielt aber noch ein weiterer Faktor eine entscheidende Rolle: Aus »den anfänglich noch filigranen und feinen Vernetzungen« werden erst dann »immer besser gebahnte Verschaltungen«, wenn es bei der Aktivität zugleich zu einer »Aktivierung der emotionalen Zentren im Gehirn« kommt (Bergman und Hüther 2007, S. 122f.). In die Sprache der Psychologie übersetzt heißt dies, dass es zu den beschriebenen neuronalen Effekten vor allem dann kommt, wenn bewusste und unbewusste Gefühle, leidenschaftliche Strebungen, Wünsche, Fantasien, Bedürfnisse eine Aktivität determinieren. Diese Erkenntnisse vorausgesetzt, gilt es im Blick auf virtuelle Aktivitäten das Augenmerk darauf zu richten, um welche Aktivitäten es sich konkret handelt und ob
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