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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Menschen ebenso beseitigt werden wie alle negativen Gefühle anderen und vor allem sich selbst gegenüber. Gefühle des Hasses, der Eifersucht, des Neides, der Entwertung, der Feindseligkeit stehen einer Entgrenzung der eigenen Persönlichkeit ebenso im Wege, wie wenn jemand mit negativen Selbstgefühlen zu kämpfen hat und sich unwert, minderwertig, ohnmächtig, schwach oder hilflos erlebt.

    Das Streben nach Entgrenzung, so allgegenwärtig es heute ist, muss vom entgrenzten Menschen nicht unbedingt auch als ein Grenzen beseitigender oder verleugnender Impuls erlebt werden. Viele entgrenzte Menschen werden andere Motive und Begründungen angeben, bei denen es aber, sieht man näher hin, um ein völlig selbstbestimmtes Verhalten geht, das keine Grenzen duldet oder im faktischen Verhalten Grenzen beseitigt. Die häufigsten Begründungen für entgrenzendes Verhalten sind sicher das Streben nach Freiheit, nach einer wörtlich verstandenen Autonomie (bei der man »sich selbst Gesetze gebend« ist), nach Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit. Manchmal verdeutlichen auch Adjektive das entgrenzende Streben. Wenn von unbedingter, bedingungsloser oder radikaler Freiheit die Rede
ist, dann signalisieren diese Beifügungen ein Freiheitsverständnis, das keine Grenzen duldet. Wenn Autonomie als »absolute« Selbstsetzung und Selbstbestimmung (und damit als etwas Autarkes) verstanden wird, dann macht das Adjektiv absolut (= losgelöst) deutlich, dass es keinerlei Rückbindung und Angewiesensein auf Vorgegebenes und Bedingendes bei der Bestimmung des eigenen Ichs oder bei der Konstruktion von Wirklichkeit geben soll. Auch andere Beiwörter wie »flüssig«, »flüchtig« (Baumann 2000), »flexibel«, »amorph«, »instabil« deuten darauf hin, dass es um Wirklichkeiten geht, die entgrenzt sind und sich deshalb einem definitorischen Zugriff oder einer Verfügung durch andere entziehen.
    Begreift man das Entgrenzungsstreben von seiner psychischen Dynamik her, dann lässt sich definieren: Das Entgrenzungsstreben zielt auf die Neukonstruktion von Wirklichkeit mit Hilfe der Beseitigung oder Verleugnung von Grenzen in Gestalt von Vorgaben und Maßgaben, Verbindlichkeiten und Begrenztheiten sowie von Widerständigkeiten, die aus der Begrenztheitserfahrung von Leben resultieren . Es geht dem Entgrenzungsstreben immer um ein Freisein von Bindungen und deshalb um eine Entgrenzung des Gebundenseins an andere und an sich selbst sowie an naturale und gesellschaftliche Vorgaben. Das Entgrenzungsstreben ist eine Leidenschaft, die auf eine entfesselte Leidenschaftlichkeit zielt, wie nicht zuletzt eine Werbung signalisiert, die von wahnsinnigen Angeboten spricht, Geiz zur geilsten Sache macht, Loblieder auf die Gier singt, mit dem Hammer die Preise traktiert, Preisbomben hochgehen lässt, Stockhagelgünstiges verspricht und »außer Rand und Band« ist.
    Wäre das deutsche Wort »Rücksichtslosigkeit« nicht so negativ und moralisierend konnotiert, so könnte es für eine Definition ebenso dienlich sein, denn das Streben nach Entgrenzung will eben gerade keine Rück-Sicht nehmen. Es zielt auf eine Neukonstruktion von Wirklichkeit in Unabhängigkeit von allem »Gewirkten« und Gewachsenen. Es will das nicht in Betracht ziehen, was als Erkenntnis und Anspruch aus der Geschichte und dem Gewordensein Maß setzend oder Realitäten schaffend einer Entgrenzung
im Wege steht. Der für das Entgrenzungsstreben häufig benutzte Begriff des »Egoismus« wird landläufig zwar gern als Wechselwort für Rücksichtslosigkeit gebraucht, allerdings ist seine primäre Bedeutung der Eigennutz auf Grund einer Vorteilsnahme - doch darum geht es dem Grenzen beseitigenden Menschen nicht.
    Ebenso ist der entgrenzte Mensch vom narzisstischen Menschen zu unterscheiden. Anders als Menschen, deren Verhalten stark von narzisstischen Größenfantasien beeinflusst wird, weshalb sie zu einer verzerrten Wahrnehmung von sich und der Realität neigen, zeichnen sich entgrenzte Menschen im allgemeinen nicht durch eine entstellte Wahrnehmung von sich und der sie umgebenden Wirklichkeit aus. Sie »leiden« vielmehr an ihrer eigenen Begrenztheit und an den Grenzen, die ihnen das Leben und Zusammenleben zumutet, weil sie von einer tief reichenden Leidenschaftlichkeit angetrieben werden, Wirklichkeit neu und anders zu konstruieren. Deshalb streben sie danach, diese Grenzen infrage zu stellen und zu beseitigen - und eben nicht, weil sie sich grandios erleben wollen.

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