Der entgrenzte Mensch
will selbstbestimmt eine Wirklichkeit herstellen, die keine Grenzen kennt. Dabei ist an die oben beschriebene Definition von Entgrenzung zu erinnern. Anders als die Begriffe Grenzüberschreitung (Transzendenz), Grenzverstoß, Grenzenlosigkeit, Unendlichkeit oder Unbegrenztheit meint Entgrenzung, dass vorhandene Grenzen real beseitigt oder (in der Vorstellung) verleugnet werden.
Leidenschaftlich gerne zu entgrenzen, um Wirklichkeit neu und anders zu konstruieren - das ist es, was den entgrenzten Menschen antreibt und motiviert. Die eigene Wirklichkeit, aber auch die Wirklichkeit, die einen umgibt, lässt sich neu, attraktiver und auch besser konstruieren, wenn sie entgrenzt wird. Was wir täglich im Beruf und im Umgang mit den Medien praktizieren und was uns von Wirtschaft und Gesellschaft vorexerziert wird, mit dem sind wir alle mehr oder weniger stark identifiziert, so dass wir ein entsprechend starkes Streben nach Entgrenzung spüren. Mit einem solchen Streben geht immer ein spezielles Freiheitsverständnis einher, das der Logik folgt: je entgrenzter, desto besser, weil Entgrenzung mehr Freiheit verspricht.
Worin sich das Entgrenzungsstreben beim Einzelnen manifestiert, hängt dieser Logik zufolge vor allem davon ab, durch welche Grenzen sich jemand behindert und deshalb als unfrei erlebt. Dies kann im Einzelfall zu sehr unkonventionellen oder exotisch anmutenden Entgrenzungen führen - etwa bei der Wahl riskanter Formen des Sports, bei extravaganten Lifestylekonstruktionen oder einem entgrenzten Liebesleben. Im Blick auf individuelle
Entgrenzungsvorlieben bewahrheitet sich weitgehend, dass es nichts gibt, das es nicht gibt. Alles ist möglich.
Für das Zusammenleben bedeutsamer sind freilich jene Grenzen, die nicht nur von Einzelnen, sondern von vielen als Hindernisse bei der Neukonstruktion ihres Lebens wahrgenommen werden. Dazu zählen an erster Stelle sämtliche Vorgaben und Maßgaben gesellschaftlicher Art (wie Konventionen, Brauchtum, Sitte, Moralen, Normen, aber auch allgemeinverbindliche Vorschriften und Pflichten), insofern sie das individuelle Entgrenzungsstreben der Vielen beschränken.
In der Interaktion von Mensch zu Mensch ist alles, was Verbindlichkeit mit sich bringt, der größte Widersacher des Entgrenzungsstrebens. Verbindlich zu einer Beziehung (Partnerschaft, Ehe, Elternschaft, Freundschaft, Geschäftsbeziehung) zu stehen mit allen Attributen der Loyalität, Fürsorge, Verantwortungsübernahme und der Bereitschaft, zu einer beziehungserhaltenden Konfliktlösung zu kommen, wird von immer mehr Menschen deshalb als Überforderung wahrgenommen, weil eine solche Verbindlichkeit ihr Entgrenzungsstreben behindert.
Für die meisten entgrenzungswilligen Menschen gilt jedoch, dass die eigene Person das größte Hindernis darstellt, um sich neu und besser konstruieren zu können. Die Begrenztheit und Endlichkeit des Menschen ist der »Stachel im Fleisch«, der sich dem Entgrenzungsstreben widersetzt, weshalb alles daran gesetzt werden muss, diese zu überwinden:
• Hinsichtlich der biologisch-körperlichen Dimension des Menschseins versuchen Gen-, Zell-, Hirn- und viele anderen Forschungen die Biologie des Menschen zu entgrenzen und die Gesetze des Alterns zu enträtseln und zu überwinden, um auf diese Weise den Menschen neu zu »erfinden«, während plastische Chirurgie und Kosmetika der körperlichen Begrenztheit und Endlichkeit bereits Einhalt zu gebieten vermögen.
• Auch die Begrenztheit des geistigen, sinnlichen und intellektuellen Vermögens zeigt sich beim Entgrenzungsstreben widerständig, weshalb einerseits Meditation und mystische Erfahrung,
Techniken der Bewusstseinserweiterung und transpersonaler Wahrnehmung wieder neu gefragt sind, andererseits Mittel zur Steuerung von Transmittern sowie Neuroenhancer entwickelt werden, mit denen sich widrige Stimmungslagen aufhellen und erwünschte herstellen lassen oder mit denen das Interesse, die Motiviertheit, die Aufnahmebereitschaft, Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnisleistung gesteigert werden können.
• Mindestens genau so umwälzend sind die Versuche, die psychische Begrenztheit zu beseitigen: Was sich hier dem Entgrenzungsstreben an gegenläufigen Bedürfnissen wie Geborgenheits- und Sicherheitsbedürfnissen, an Ängsten und Zwängen, an faktischen Abhängigkeiten, Unsicherheiten, mangelndem Selbstvertrauen, Unzulänglichkeiten und charakterlichen Fixierungen entgegenstellt, muss durch eine »mentale Neukonstruktion« des
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