Der entgrenzte Mensch
mit virtuell ausgeführten Aktivitäten kognitive und emotionalaffektive Fähigkeiten und Wünsche eingeübt und/oder ausgelebt werden, die individuell und gesellschaftlich erwünscht oder tabuisiert sind. Auch ist immer zu fragen, warum diese Fähigkeiten in virtuellen Realitäten statt im physischen Lebensvollzug praktiziert werden.
RISIKEN DER BEVORZUGUNG VIRTUELLER REALITÄT
Die erst mit den elektronischen Medien so weitreichend ermöglichte Virtualisierung enthält in psychologischer Perspektive vor allem zwei Risiken. Wie gezeigt wurde, führt jede Virtualisierung
nicht nur zu einer Entgrenzung der Realität, sondern auch der Realitäts prüfung . Die Fähigkeit des Ichs zur Realitätsprüfung ist aber eine zentrale kognitive und psychische Fähigkeit, deren Funktionalität nach der Devise »use it or loose it« nur durch Praxis erhalten bleibt. Da die Realitätsprüfung zwischen subjektiv erlebter und äußerer Realität bei Aktivitäten in virtuellen Welten nur hinderlich ist, führt eine zunehmende Betätigung in virtuellen Welten zur (meist nur partiellen) Verkümmerung dieser wichtigen psychischen Fähigkeit, zum Abbau entsprechender neuronaler Verknüpfungen und damit zu einer Schwächung des Ichs.
Ein solches Risiko der Schwächung dieser so wichtigen Ichfunktion lässt sich vor allem dann beobachten, wenn Menschen virtuelle Welten aufsuchen, um sich wertvoller, zufriedener, gelöster, stärker oder glücklicher erleben zu können als im realen Leben. Denn dann geht es, psychologisch gesehen, in erster Linie nicht um eine Entgrenzung der äußeren Realität oder auch der eigenen inneren Realität, sondern um eine Entgrenzung der Realitäts prüfung hinsichtlich dieser Erlebensbereiche und damit um eine Flucht aus einer unerträglich erscheinenden physischen und psychischen Realität. Je mehr sich jemand in solchen virtuellen Realitäten bewegt, desto weniger ist er noch willens und fähig, die Welt, auf die er reagieren muss und die er zu gestalten hat, auch als ein Gegenüber wahrzunehmen, das einem Möglichkeiten, aber eben auch Grenzen und Enttäuschungen, Leidvolles und Beängstigendes zumutet. Gleichzeitig aber, und darin liegt die Tragik einer solchen Bevorzugung bestimmter virtueller Welten, führt jede Flucht aus einer solchen ambiguen Realität zu Verkümmerung jener geistig-intellektuellen, emotional-affektiven und sinnlich-körperlichen Eigenkräfte, mit denen er selbst Realität zu gestalten imstande ist.
Neben dem Risiko, durch die Bevorzugung bestimmter virtueller Welten Realität nicht mehr aus eigenen Kräften gestalten zu können, lässt sich ein erhöhtes Suchtrisiko konstatieren. Auf die psychologische Frage, warum bestimmte virtuelle Realitäten
immer attraktiver werden und welche Strebungen und Wünsche in virtuellen Welten bevorzugt befriedigt werden, gibt die Neurobiologie die Antwort, dass über virtuelle Welten (etwa bei Killerspielen) die »Belohnungszentren« im Gehirn effizient aktiviert werden, so dass körpereigene Opiate wie das Dopamin freigesetzt werden und einen rauschartigen Zustand erzeugen. Die virtuelle Realität bietet also den großen »Vorteil«, unabhängig von der eigenen Befindlichkeit und den persönlichen Zumutungen des Lebens - aber auch unabhängig von den eigenen realen Möglichkeiten -, Zufriedenheit und Glück erleben zu können, indem man sich in einen rauschartigen Zustand versetzt. Dies lässt sich wiederholen, sooft man die virtuelle Realität zu diesem Zweck aufsucht - mit der Folge, dass es zu einer immer größeren Verstärkung derart aktivierter Nervenverbindungen kommt, während andere abgebaut werden. Kein Zweifel also, dass ein bestimmter Gebrauch virtueller Realitäten eine ähnliche Wirkung hat wie die Aushebelung der Realitätskontrolle durch Drogen und exzessives Verhalten.
Wird für einen Menschen das Leben in bestimmten virtuellen Realitäten immer attraktiver, dann beinhaltet die damit einhergehende Reduktion der Realitätskontrolle in diesen Bereichen auch ein erhöhtes Suchtrisiko. Diese Reduktion wird wie bei dem, der sich einen Rausch antrinkt, zunächst nicht in einem Versagen der Realitätsprüfung außerhalb des Rausches bzw. der virtuellen Welten sichtbar. Sobald der Rausch abgeklungen ist bzw. der Betreffende aus der virtuellen Welt auftaucht, ist er durchaus wieder fähig, mit den durch die Realitätsprüfung zugemuteten Grenzen weiterleben zu können. Die Entgrenzung der Realitätsprüfung wird vielmehr in einer
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