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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Natürlich gibt es auch narzisstische Menschen (und zwar gerade in den Spitzenpositionen von Wirtschaft und Politik), die zugleich nach Entgrenzung streben und deshalb von einem grenzenlosen Grandiositätsstreben geritten werden. Bei ihnen steht das Entgrenzungsstreben im Dienst ihres Narzissmus. Der entgrenzte Mensch will Wirklichkeit mit den heutigen Entgrenzungsmöglichkeiten neu schaffen, indem er Grenzen beseitigt. Es ist dieses leidenschaftliche Entgrenzungsstreben, das ihn bei der Neukonstruktion leitet.
    Da es in diesem Buch in erster Linie um den entgrenzten Menschen in psychologischer Perspektive geht, werden in den nachfolgenden Abschnitten vor allem die Möglichkeiten (und schließlich auch die Grenzen) der Entgrenzung der eigenen Persönlichkeit und des Miteinanders erörtert.

KONSTRUIERTE PERSÖNLICHKEIT
    Wenn Entgrenzung auf die Beseitigung von Gebundensein zielt, dann steht auch das Gebundensein an sich selbst und an die eigene psychische Ausstattung zur Disposition. Tatsächlich stellt die eigene Persönlichkeit mit den ganz individuellen Eigentümlichkeiten eines Menschen (dem, was man »Charakter« nennt) ein erhebliches Hindernis für die Neukonstruktion der Persönlichkeit dar. Wer frei sein will, muss auch das Gebundensein an das Eigene überwinden und sich auch von der Vorstellung frei machen, dass es so etwas wie das Eigene gibt. Der emanzipatorischer Appell der Achtziger Jahre - »Du bist der, der du bist. Lass Dir deshalb von niemandem sagen, wer du bist und was für dich richtig oder falsch, gut oder böse ist!« - ist längst verklungen. Ein solcher Ruf setzte immer noch voraus, dass es etwas Eigenes gibt, das es gegen jede Art von Bevormundung zu schützen gilt.
    Wer sich wirklich frei erleben will, muss sich auch von den Grenzen des Eigenen lösen und sein vertrautes Selbst hinter sich lassen. Dieses gilt es, je nach Anlass, Situation und Lust durch ein neu erfundenes Selbst und durch eine ebensolche »gemachte« Persönlichkeit zu ersetzen. Wenn ein entgrenzter Mensch deshalb von »Selbstverwirklichung« spricht, meint er etwas völlig anderes als die Verwirklichung eines unverwechselbaren eigenen Selbst. Ihm geht es um die Entgrenzung seines Selbst durch eine Neuschöpfung, die nicht mehr an seine Vorfindlichkeit gebunden ist. Der Anspruch bleibt dabei bestehen, in dem, wie er sich neu erfindet, er selbst zu sein. Doch er ist er selbst ohne Rückgriff auf Eigenes. Dies unterscheidet ihn auch von einem, der in unterschiedlichste Rollen schlüpft und darin etwas Eigenes zum Ausdruck bringt. Gleiches gilt für das Verständnis von Authentizität. Authentisch ist nicht der, der nicht anders kann, als so zu sein, wie er eben ist. Vielmehr ist der authentisch, der sein Selbst widerspruchsfrei und gekonnt zu inszenieren imstande ist, ohne dass etwas »Eigentümliches« zu erkennen wäre.

    Die konstruierte Persönlichkeit geht immer mit einer Enteignung einher, weil der entgrenzte Mensch kein Selbst mehr sein Eigen nennt. Und doch wird er von sich nicht sagen, dass er kein Selbst habe. In seiner Selbstwahrnehmung zeichnet er sich gerade dadurch aus, dass er über viele unterschiedliche Selbstkonstruktionen und Identitäten zu verfügen und diese authentisch zu inszenieren imstande ist. Auch wenn der entgrenzte Mensch sich selbst so wahrnimmt, so stellt sich bereits an dieser Stelle die Frage, ob eine solche Selbstkonstruktion auch tatsächlich seiner psychischen Realität entspricht oder nicht vielmehr Ausdruck einer Simulation seiner selbst und einer Verleugnung seines Eigenseins ist. Die Frage verstärkt sich angesichts der folgenden Beobachtungen.
    Die Konstruktion des Selbst beim entgrenzten Menschen folgt weitgehend den Mechanismen der bereits beschriebenen industriellen Produktion von Wirklichkeit. Wie die Wirtschaft Lifestyles, Erlebniswelten, Emotions, Unterhaltungs- und Sinnwelten produziert und offeriert, so erfindet sich der (aktive) entgrenzte Mensch mit jener Persönlichkeit neu, in der er sich neu geschaffen (»erfunden«, »aufgestellt«) erlebt und wertschätzen kann, mit der er die Aufmerksamkeit auf sich zieht, Wirkung zeigt, beruflich erfolgreich ist, usw. Oder aber er orientiert sich passiv bzw. interaktiv bei seiner Persönlichkeitskonstruktion an jenen Milieus, Gefühlen, Szenen, Erlebnis- und Unterhaltungswelten, die zu ihm passen. Er trägt dann die für diese Lebenswelt typische Markenkleidung und Accessoires, liebt deren Musik, Geschmack, Literatur,

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