Der entgrenzte Mensch
Freizeitaktivitäten usw.; ebenso wählt er seine Bekanntschaften nach den zu ihm passenden Persönlichkeitsmerkmalen.
Die Leidenschaftlichkeit, mit der heute Menschen ihre Persönlichkeit entgrenzen und neu konstruieren, wird auf weiten Strecken durch den beruflichen Zwang zur Neukonstruktion des Selbst erwirkt. Die sprichwörtliche Stewardessenfreundlichkeit und das »keep smiling« sind längst zum Standard für alle Berufe mit Kundenkontakten geworden. Ein Blick in die Stellenangebote zeigt, dass neben den rein fachlichen Qualifizierungen
vor allem Persönlichkeitsattribute wie Teamfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Kreativität, Einfühlungsvermögen, Führungsstärke, Selbstbewusstsein, Eigenverantwortung und alle Varianten von Freundlichkeit (positive Ausstrahlung, Kompromissbereitschaft, Verbreitung eines guten Klimas usw.) als berufliche Qualifikationen gefordert sind. Es fällt aber auch auf, dass Persönlichkeitsattribute als berufliche Qualifizierungen auch bei Tätigkeiten gehandelt werden, bei denen es nur um das Bedienen von Maschinen geht. Offensichtlich spielt die konstruierte Persönlichkeit eine noch viel weitergehende Rolle.
Es kommt tatsächlich heute bei so gut wie allem auf die Persönlichkeit an. Auch ein Auto hat Persönlichkeit, zeigt eine emotionale Qualität und Ausstrahlung und hat einen bestimmten Charakter. Ein Wein hat ebenso Persönlichkeit wie eine Couch oder ein Design, das Restaurant oder Wellness-Hotel. Dass Persönlichkeit auch bei Gegenständen und Einrichtungen zu finden ist, zeigt noch einmal mehr, dass Persönlichkeit nichts mehr mit einer bestimmten Person und mit menschlichen Eigenheiten zu tun hat, sondern etwas von menschlichen Eigentümlichkeiten Entgrenztes und unabhängig von seiner psychischen Ausstattung Konstruiertes ist. Wenn Dingen Persönlichkeit zugeschrieben wird, dann ist dies auch keine metaphorische oder symbolische Redeweise, sondern »ernst« gemeint: Dieser Tisch und diese Landschaft hat real Persönlichkeit. Man spürt und nimmt etwas von deren Persönlichkeit wahr.
Dass auch die Persönlichkeit von Dingen in ihrer Wirkung wahrnehmbar ist, bestätigt, dass auch die konstruierte Persönlichkeit beim entgrenzten Menschen keine innere Verbindung zum Eigensein dieses Menschen voraussetzt und meistens faktisch auch keine hat. Vor allem aber wird deutlich, das die konstruierte Persönlichkeit des entgrenzten Menschen in Wirklichkeit eine Simulation von Persönlichkeit ist, die umso willkommener und besser ist, je weniger sie mit dem realen Menschen und seinen persönlichen Eigenheiten zu tun hat.
ENTBUNDENE BEZIEHUNG
Wenn Entgrenzung die Beseitigung von Gebundensein voraussetzt, dann steht nicht nur das Gebundensein an sich selbst zur Disposition, sondern auch das Gebundensein an andere Menschen. Was aber heißt Entgrenzung des Gebundenseins an andere? Im Abschnitt über »Grenzenlose Individualisierung und entgrenztes Verbundensein« wurde bereits deutlich, dass und wie Menschen frei und ungebunden und doch mit Hilfe von Vernetzung und Kontaktmedien verbunden sein möchten. An der Tatsache, dass entgrenzte Menschen verstärkt bestimmte Formen des Verbundenseins suchen, zeigt sich, dass der Mensch offensichtlich ein Beziehungswesen ist und dass sein Bedürfnis nach Bezogenheit und Verbundensein auch dann fortbesteht, wenn er sich von einer auf Abhängigkeit zielenden Fürsorglichkeit anderer befreit hat bzw. sich aus Abhängigkeiten lösen konnte, die der Herrschaftsausübung anderer dienen.
Anders als es die meisten Psychologien und Menschenbilder der Neuzeit vertraten, gibt es seit den Arbeiten des amerikanischen Psychiaters und Psychoanalytikers Harry Stack Sullivan, der Bedürfnislehre Erich Fromms und den humanethologischen Forschungen John Bowlbys eine gesicherte Erkenntnis darüber, dass der Mensch ein Bezogenheitswesen ist, das auf eine Bindung an die menschliche und natürliche Umwelt immer angewiesen ist. Dies gilt selbst dann, wenn der Mensch darüber noch kein Wissen hat (wie im pränatalen Leben und für einige Zeit nach der Geburt), wenn er jedes Ausleben der Bezogenheit nach Möglichkeit vermeidet (wie im Autismus) oder wenn auf Grund von Hirnverletzungen oder neuronalen Degenerationsprozessen (wie etwa bei der Demenz) die Wahrnehmung seines Bezogenseins erlischt. Säuglings- und Bindungsforschung (Bowlby 1969; Ainsworth 1978; vgl. Dornes 2006) haben ebenso wie die Forschungen zu den Spiegelneuronen (vgl. Bauer 2005) den empirischen
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