Der entgrenzte Mensch
er die Suche. »Ich hatte kein Gespür mehr für Grenzen, ich streckte meine Fühler in die Unendlichkeit.« (A.a.O., S. 287.) Doch die Suche im Unendlichen wird zur unendlichen Suche und deshalb zur Sucht, während die unendliche Freiheit zu einer Bindungsunfähigkeit führt, die zu überwinden erst möglich ist, wenn »die Möglichkeiten (…) als Mauern« sichtbar werden (a.a.O., S. 308). Dieses Plädoyer für eine Begrenzung der Entgrenzung verhallt allerdings bei der Lektüre des Buches angesichts der fehlenden Kommunikation mit dem Leser. Die 300 Seiten muten wie gelehrte Selbstgespräche an, die den Leser mit einer entbundenen Beziehung bekannt machen, bei der tatsächlich kaum noch etwas von Liebe zu spüren ist.
Entgrenzte Menschen streben auch in ihren Liebesbeziehungen unablässig nach neuen Kontakten, ohne verweilen und sich binden zu können. Sie tun dies, nicht weil sie zur Freiheit der Wahl gezwungen sind (auch wenn der eine oder die andere dies so erleben mag), sondern weil sie mit zunehmendem Entgrenzungsstreben jede Beziehung ihres Bindungspotenzials berauben müssen mit dem Effekt, dass sie immer auf der Suche sind. Die mit einem forcierten Entgrenzungsstreben einhergehende mögliche Dynamik einer Beziehungssucht ohne emotionale Bindungsfähigkeit sollte aber nicht dazu führen, den Blick für die ganz alltäglichen Erscheinungsweisen entbundener Beziehungen zu verschließen. Diese lassen sich nicht nur bei der bindungslosen Kontaktpflege beobachten, sondern auch bei Paaren, die den Versuch machen, aus einem Kontakterleben ein Beziehungsprojekt werden zu lassen.
Sowohl bei der bindungsscheuen Kontaktpflege als auch bei partnerschaftlichen Beziehungsprojekten ist die Unverbindlichkeit, die mit dem Entgrenzungsstreben einhergeht, an Werte geknüpft, die für das entbundene Zusammenleben wichtig sind.
Entgrenzte Menschen zeichnen sich durch viel Toleranz für und Achtung vor dem anderen aus. Fairness ist für sie geradezu ein Leitwert. Projektbezogen zeigen sie eine hohe Kooperationsbereitschaft. Sie sind so gut wie nie nachtragend und können trotz des Scheiterns einer (Lebensabschnitts-)Partnerschaft gute Freunde bleiben. Eifersucht ist meist kein Thema. Auch sexuell fühlen sie sich an keine Vorgaben und Maßgaben gebunden. Jedes und alles ist möglich und deshalb erlaubt, auch die Enthaltsamkeit.
Auf der anderen Seite sind Beziehungswünsche tabu, aus denen sich Verbindlichkeiten, Erwartungen der Verlässlichkeit und anhaltende Nähebedürfnisse ergeben könnten. Deshalb gehört die Verwirklichung beziehungsrelevanter Werte wie Treue, Rücksichtnahme, bedingungslose und fürsorgliche Liebe, Zuverlässigkeit, Pflichtgefühl, Einfühlungsvermögen, Mitgefühl, Mitleid, Verantwortungsgefühl nicht zu den Stärken entgrenzter Menschen und Partner. Dies ist zweifellos auch ein wichtiger psychologischer Grund, warum die Bereitschaft zur Eheschließung und Familiengründung insgesamt schwindet. Zudem liegt es nahe, dass nur Menschen mit einem ähnlich ausgeprägten Entgrenzungsstreben eine Chance haben, über die Kontaktnahme hinaus zu einer Beziehung zu gelangen. Menschen mit Wünschen nach Nähe und Verlässlichkeit scheitern an der Bindungslosigkeit des entgrenzten Partners und werden mit ihm nur »unglücklich«. Umgekehrt bleibt dem entgrenzten Partner angesichts der Bindungswünsche seines Gegenübers nur die Flucht aus der sich anbahnenden Beziehung.
Warum aber kann es bei einigermaßen »gleichgetakteten« entgrenzten Menschen zu einer Partnerschaft kommen? Auch wenn die emotionale Bindung aneinander dem Entgrenzungsstreben anheimfällt, so wollen entgrenzte Menschen doch immer verbunden sein mit denen, die zu ihnen passen. Entgrenzte Menschen verbindet deshalb, dass sie nach Entgrenzung streben. Dieses gemeinsame Streben lässt eine Beziehung so lange gelingen, wie es gemeinsame Vollzüge des Entgrenzens gibt. Denn durch sie ist
sicher gestellt, dass sie zueinander passen. Es gibt also sehr wohl auch eine Liebe von entbundenem zu entbundenem Menschen, die sich im Verbundensein durch gemeinsame Entgrenzungsinteressen artikuliert.
Um welche gemeinsamen Vollzüge es sich dabei handelt, zeigt ein Blick auf die Tätigkeiten während der gemeinsamen Zeiten etwa am Wochenende. Das partnerschaftliche Verbundensein wird ganz häufig in den inszenierten Welten eines grenzenlosen Konsums gesucht, in medialer Unterhaltung, entgrenzter Bewegung und Musik, Massenevents, Erlebnisreisen, sportiven
Weitere Kostenlose Bücher