Der entgrenzte Mensch
Beweis
geliefert, dass der Mensch nicht nur ein schon immer bezogenes Wesen ist, sondern auch die neuronale Ausstattung mitbringt, sein Bezogensein mitfühlend, einfühlend und fürsorglich zu gestalten.
Ob diese Ausstattung tatsächlich genutzt wird, hängt in erster Linie von der Art der Bindungs- und Beziehungserfahrungen ab, die ein Mensch insbesondere in seinen ersten Lebensjahren macht. Die psychische Entwicklung des Menschen lässt sich deshalb als Entwicklung seiner Beziehungsfähigkeit beschreiben. Bei dieser Entwicklung gilt es zwei Aspekte zu unterscheiden: die Fähigkeit, autonom, das heißt unabhängig von Bezugspersonen Beziehung herstellen zu können, und die Fähigkeit zu einer Beziehung, in der der Mensch sich weitgehend ungebunden, frei und autonom erleben kann. Mit der Fähigkeit, autonom Beziehung herstellen zu können, ist gemeint, dass der Mensch in zunehmendem Maße vom realen Zusammensein mit anderen Menschen dadurch unabhängig wird, dass die realen Bindungs- und Beziehungserfahrungen verinnerlicht werden. Mit dem Aufbau innerer Bilder (Repräsentanzen, Imagines) bzw. - um es in der Sprache der Gedächtnisforscher zu sagen - mit der Etablierung des episodisch-autobiografischen Gedächtnisses (das ein weitgehend dem Bewusstsein entzogenes, also »implizites« Gedächtnis ist) entwickelt sich deshalb eine autonome Bindungsfähigkeit. Sie befähigt den Menschen, allein und zugleich auf andere Menschen bezogen und mit ihnen verbunden zu sein.
Auch die Fähigkeit zu einer Bindung und Beziehung, bei der man sich ganz beim anderen und mit ihm verbunden erlebt und zugleich ein größtmögliches Maß von Freiheit, Autonomie und Unabhängigkeit gegenüber der Person, mit der man verbunden ist, spürt, gehört zur neuronalen Ausstattung des Menschen, aber sie ist ihm nur als Potenzial gegeben. Sie kann durch Abhängigkeit produzierende Erfahrungen an ihrer Ausbildung gehindert werden. Oder positiv gewendet: Sie entwickelt sich nur dann, wenn ein Mensch die Chance hat, Beziehungserfahrungen zu verinnerlichen, die seine Autonomie und Eigenständigkeit innerhalb
einer verlässlichen Bindung fördern wollen. Darin liegt die Kunst der Erziehung begründet. Sie hat mit dem Paradoxon der menschlichen Existenz zu tun, »dass der Mensch zugleich Nähe und Unabhängigkeit suchen muss, zugleich das Einssein mit anderen und das Bewahren seiner Einmaligkeit und Besonderheit« (Fromm 1947, S. 64f.).
Diese psychologischen Klärungen vorausgesetzt, ist erneut zu fragen, was Entgrenzung des Gebundenseins an andere heißt. Anders als die eben beschriebene Fähigkeit zu einer emotionalen Bindung bei größtmöglicher Autonomie, bei der eine Balance von Nähe und Distanz unter Erhalt einer gefühlten Verbundenheit versucht wird, glaubt der entgrenzte Mensch, diese Autonomie nur dadurch sichern zu können, dass er sich emotional vom anderen, so gut es ihm möglich ist, entbindet . Dies gelingt ihm dadurch, dass er die emotionalen Bindungskräfte wie Zuneigung, Zärtlichkeit, Vertrauen, Sehnsucht, Erinnern, Vermissen durch die Pflege von Kontakten ersetzt. Auf diese Weise lässt sich ein Verbundensein mit dem anderen herstellen und wahrnehmen, ohne dass mit einem solchen Verbundensein eine Verbindlichkeit oder ein gefühltes Angewiesensein einhergeht.
Die Freiheit des entgrenzten Menschen besteht darin, dass er unverbindlich mit anderen verbunden sein möchte. Wie ein solches Beziehungsleben aussieht, hat auf zugespitzte Weise Sven Hillenkamp in dem Buch Das Ende der Liebe (Hillenkamp 2009) beschrieben. Die Freiheit, nicht der Zwang der Konventionen, bringe heute Menschen dazu, nicht mehr lieben zu können. Für Hillenkamp ist es vor allem die absolute Wahlfreiheit, die einen zu einem ständigen Vergleichen anhält und alles nur vorläufig sein lässt - ein unverbindliches Kontaktnehmen und zum Nächsten Eilen. In immer neuen, nie eindeutigen und endgültigen Metaphern und Reflexionen beschreibt er mit autobiografischer Tönung das Elend eines entgrenzten Bezogenseins und lässt am Ende - stellvertretend für sich selbst - die Menschen so denken: »Ja, ich liebte die Passanten. Vorübergehend.« Denn »jeden Tag widerfuhr sie mir, die Liebe auf den ersten Blick - und die Enttäuschung
auf den zweiten« (a.a.O., S. 286). Entbundenes Beziehungsleben ist wie ein Aufenthalt in einem Wartezimmer, wo auch alles vorläufig ist. Da dem freien (entgrenzten) Menschen jede Entscheidung vorläufig und unvernünftig scheint, wählte
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