Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
Vom Netzwerk:
Extremerfahrungen. Stundenlang taucht man gemeinsam in die inszenierten und simulierten Video- und Cyberwelten ein und macht die Nacht zum Tag. Überhaupt spielen die neuen Medien, weil sie ganz ohne Aufwand einen Zugang zu entgrenzten Wirklichkeiten ermöglichen, eine dominierende Rolle. Neben den sinnlichen Entgrenzungsvollzügen, zu denen auch der von Bindungsängsten frei gehaltene Sex gehört, kommt bei nicht Wenigen der Konsum von Drogen mit entgrenzenden Wirkungen hinzu.
    Partnerschaften lassen sich auf Dauer nicht nur mittels gemeinsamer Vollzüge am Leben halten. Es muss schon auch eine Interaktion zwischen den bindungsscheuen, aber die Verbundenheit suchenden Partnern stattfinden, die etwas mit Zuneigung und Wertschätzung zu tun hat. Liebenswert ist der andere deshalb in dem Maße, als er die Werte entgrenzten Verbundenseins lebt und bereit ist, seine eigene Persönlichkeit je neu zu entgrenzen. Nur wer sein Selbst ohne Rückgriff auf seine psychische Ausstattung je neu zu inszenieren und zu konstruieren imstande ist und sich damit zum Erlebnis für den anderen machen kann, ist attraktiv für die entgrenzte Partnerin oder den entgrenzten Partner. Anders als bei emotional gebundenen Menschen, wo eine gegenseitige Wertschätzung durch eine möglichst gleich bleibende und deshalb verlässliche Persönlichkeitskonstruktion sowie durch eine anhaltende körperliche, seelische und geistige Attraktivität gewährleistet ist, finden sich emotional entbundene Menschen dann liebenswert und attraktiv, wenn die eigene Persönlichkeitskonstruktion
Überraschungen zu bieten hat und man sich füreinander je neu erfindet.
    Allerdings birgt auch die entbundene Beziehungskonstruktion Risiken. Ein erhebliches Risiko ist, dass die Kreativität bei den Simulationen und Inszenierungen der eigenen Persönlichkeit lahmt oder gar vereitelt wird. Werden nicht zu entgrenzende körperliche, psychische und geistige Einschränkungen spürbar oder wird jemand gar von Panikattacken oder Depressionen heimgesucht, dann treffen derart massive Grenzerfahrungen oft den Nerv einer entbundenen Beziehungskonstruktion. Wer sich nicht mehr entgrenzen kann und vermehrt nur noch Grenzen zeigt, der gilt als nicht mehr liebesfähig und langweilig. Andere Risiken ergeben sich aus veränderten Lebensumständen und vor allem aus der Familiengründung.
    Gerade bei jüngeren Paaren, die sich durch ihre für sie passenden Szenen definieren und an deren Entgrenzungspraktiken Anteil haben, kommt es durch die Schwangerschaft und die Geburt eines Kindes oft zu völlig neuen Selbst- und Beziehungserfahrungen. Vor allem werdende Mütter entwickeln Bindungswünsche und die Fähigkeit, ganz auf das konzentriert zu sei, was in ihnen ohne selbstbestimmte Entgrenzungsaktivität vor sich geht und einfach wächst. Werdende Eltern nehmen erstaunt zur Kenntnis, dass die Entgrenzung des eigenen Menschseins in ein neues menschliches Leben nur von ihnen ausgelöst wurde, aber nicht von ihnen bewerkstelligt wird, vielmehr einer vorgegebenen Wachstumsdynamik folgt. Auch nehmen sie nach der Geburt wahr, wie abhängig und bindungsbedürftig dieses kleine Wesen ist und nicht nur nach Milch und neuen Windeln verlangt, sondern nach Berührung, Wärme, Schutz, Geborgenheit und einem Blickkontakt, der zugewandt ist und Beglückung ausdrückt.
    Je nachdem, ob beide Eltern oder nur ein Elternteil solche Bindungserfahrungen machen, kommt es zu einem je anderen »Angriff« auf das gut verinnerlichte Entgrenzungsstreben und auf die bisher gültige Beziehungskonstruktion. Wenn beide sich auf die durch das Kind evozierte andere Beziehungsart, die eben Bindungsgefühle
zulässt und selbst sucht, einlassen können, werden sich die konkreten Vollzugsformen des Bezogenseins der Partner aufeinander eher auch einvernehmlich ändern können. Je stärker ein Elternteil den Bindungsanspruch, der vom Kind ausgeht, jedoch abwehrt und sich seine Freiheit erhalten will, desto gefährdeter ist die elterliche Beziehung. Das Kind und alles was mit ihm an Abhängigem einhergeht, wird von diesem Elternteil als Verrat an einer entbundenen Beziehungskonstruktion gesehen.
    Natürlich sind es nicht nur bindungsbedürftige Kinder, die eine auf Entbindung basierende Beziehung gefährden. Oft werden nicht verkraftete Verluste von nahen Menschen, mit denen man emotional sehr verbunden war, nur dadurch überwunden, dass man jede Art von Beziehung, die auf emotionaler Bindung aufbaut, meidet und deshalb auf eine

Weitere Kostenlose Bücher