Der entgrenzte Mensch
Zusammenleben.
Der Siegeszug von Digitalisierungs-,Vernetzungs- und Medientechnik hat diese Domäne der Eigenkräfte, nämlich das Selbstwerterleben und das Zusammenleben zu regeln, grundsätzlich in Frage gestellt. Auch in diesen Bereichen scheinen jetzt die in Techniken und Praktiken zur Wirklichkeitsherstellung veräußerlichten Eigenkräfte um vieles mehr zu vermögen, als Menschen je mit der bloßen Praxis ihrer Eigenkräften an gesteigertem Selbstwerterleben und gelungenem Zusammenleben hervorbringen könnten. Analog zu der ungeahnt erfolgreichen Ersetzung körperlicher Eigenkräfte durch Maschinen und technisches Gerät, versprechen Psycho- und Sozialtechniken auch die Entgrenzung der bescheidenen und viel zu begrenzten psychischen, sozialen und geistigen Eigenkräfte.
Auf Inszenierung und Virtualisierung (Simulation) setzende Techniken, Steuerungsinstrumente, Manuale und Programme sollen die Steuerung des Selbst(wert)erlebens und des Zusammenlebens durch Eigenkräfte ersetzen. Mit Persönlichkeitstrainings und entsprechenden Selbstmanagementprogrammen lassen
sich die Selbstwahrnehmung und die eigene Willensbildung optimieren, erwirbt man sich soziale Kompetenzen, steigert man seine Kommunikations-, Konflikt- und Lernfähigkeit und eignet man sich Führungsqualitäten an. Was Psychotechniken im Bereich der Persönlichkeitsbildung leisten, machen Sozialtechniken im Bereich des menschlichen Zusammenlebens und der Organisation des Sozialen möglich. (Vgl. ausführlich in Funk 2005, S. 106-109.)
Nicht alle Psycho- und Sozialtechniken verfolgen das Ziel, die menschlichen Eigenkräfte zu ersetzen; viele wollen sie nur anleiten und trainieren. Allein deshalb schon kann es nicht um eine pauschale Infragestellung solcher Techniken gehen. Auch hier lässt sich die kritische Frage nach dem Umgang mit solchen Techniken anhand der Wirkungen beantworten, die diese Techniken auf die Eigenkräfte des Menschen haben. Ob sie mit ihrer Didaktik, Methodik, Programmatik und Technik nicht doch einen enteignenden Effekt haben und zu einer Verkümmerung und Ersetzung der Eigenkräfte führen, lässt sich subjektiv relativ leicht feststellen: Wer noch fähig ist, die entsprechenden Fähigkeiten auch ohne Anleitung, Coaching, Programm oder Hotline auszuüben, hat noch einen direkten Zugang zu seinen Eigenkräften. Er wird sich auch dann wert erleben und mit anderen Menschen noch etwas anfangen können, wenn er nur seine Eigenkräfte zum Einsatz bringt. Die Nutzung von Psycho- und Soziotechniken mit Hilfe von Inszenierung und Virtualisierung hat nicht zur Enteignung von Eigenkräften geführt.
Bevor der Frage nachgegangen wird, warum die Wirksamkeit und der Erhalt der Eigenkräfte aus psychologischer Sicht so wichtig sind, bedarf es einer genaueren begrifflichen Klärung, was unter menschlichen Eigenkräften zu verstehen ist. Im Anschluss an Erich Fromm (Fromm 1947, S. 56-64) sind unter Eigenkräften jene körperlichen, psychischen und geistigen Fähigkeiten zu verstehen, mit denen der Mensch weitgehend unabhängig von fremden Kräften selbst denken, fühlen, sich bewegen, wollen und aktiv sein kann. Der entwickelte und reife Mensch gestaltet sein
Leben aus eigenen Kräften, die ihn relativ unabhängig von ihm nicht eigenen Mitteln der Lebensbewältigung und anderer Menschen machen.
Solche Eigenkräfte bilden sich erst im Laufe des Lebens als differenzierte Antriebskräfte aus. Ihre Wirksamkeit und ihr Fortbestehen als von fremder Hilfe unabhängige Eigenkräfte sind an drei Voraussetzungen geknüpft: (1) Um Eigenkräfte werden zu können, muss ihre Ausrichtung (»Orientierung«) auf Eigenständigkeit (Autonomie) und Unabhängigkeit zielen; (2) die Eigenkräfte müssen inneren und verinnerlichten Strukturbildungen entstammen und (3) sie müssen praktiziert werden, weil ihr Fortbestehen an ihre Übung geknüpft ist. Ob man die inneren Strukturbildungen mit Freuds Strukturmodell als Ich, Es und Über-Ich verdeutlicht oder als ausdifferenzierte, mit Energie versehene innere Bilder der Objektwelt und unterschiedlicher Selbstaspekte begreift oder mit den Neurowissenschaften als komplexe und ausdifferenzierte neuronale Netze mit entsprechenden Gedächtnisbildungen, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Entscheidend ist, dass sie durch Verinnerlichung zu etwas dem Menschen Eigenes und »Eigentümliches« geworden sind - ein Eigentum, das ihm von anderen nicht genommen werden kann, dass sie als (intrinsische) Antriebskräfte erlebt werden -
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