Der entgrenzte Mensch
und dass sie der ständigen Übung bedürfen, wenn sie ihre Wirksamkeit als Eigen- und Antriebskräfte des Menschen nicht verlieren sollen. Auch wenn es sich um eine Binsenwahrheit handelt, soll dieser Aspekt doch noch illustriert werden: Wer keine vertrauensbildende Akte zu praktizieren versucht, wird sich auch nicht die psychische Eigenkraft, vertrauen zu können, und die psychische Antriebskraft, vertrauen zu wollen, erhalten, sondern immer misstrauischer werden. Oder: Wer sich immer mehr um eine realitätsgerechte Wahrnehmung seiner Selbst drückt, wird seine psychisches Eigenkraft, vernunftgerecht denken, fühlen und handeln zu können, verlieren und sie nur wieder gewinnen können und wollen, wenn er sich anschickt, sich mit der Realität auseinander zu setzen.
Der für die hier diskutierte Fragestellung wichtigste Aspekt der Eigenkräfte ist deren Wirksamkeit. Eigenkräfte zeichnen sich
- im Unterschied zu allen Aktivitäten, die durch einen Reiz-Reaktions-Mechanismus erzeugt werden - durch eine Eigenaktivität oder Selbsttätigkeit aus. Diese lässt sich - wie dies bereits Karl Marx (1844, S. 118) und später Erich Fromm (1968, S. 312) getan haben - mit dem Argument veranschaulichen, dass man Augen hat, um zu sehen und einen Verstand, um zu denken. Die Tatsache, dass wir mit sinnlichen, körperlichen, geistigen und emotionalen Kräften ausgestattet sind, schafft das Bedürfnis zu ihrer Betätigung und wird als Antriebskraft erlebt. Dieses Bedürfnis ist direkt als solches spürbar. Seine Betätigung stellt sich automatisch mit dem Vollzug des Lebens ein, sofern es um sinnliche und körperliche Eigenkräfte geht. Weil ich Augen habe, habe ich das Bedürfnis zu sehen, und weil ich Muskeln habe, habe ich das Bedürfnis, mich zu bewegen.
Geht es um geistige und emotionale Kräfte, dann bedürfen sie, um als Antriebskräfte wirksam zu werden, einer besonderen Förderung und Spiegelung durch die Umwelt, womit es zugleich zu einer affektiven Besetzung kommt (durch eine neuronale Vernetzung mit den Lust- und Unlust-, Belohnungs- und Bestrafungszentren). Auch für sie gilt, dass sie in sich das Bedürfnis tragen, sich auszudrücken, und dass nur ihre Betätigung sie zu Fähigkeiten und Antriebskräften werden lässt. Die Eigenkräfte zeichnen sich deshalb durch ein intrinsisches Aktivierungsbedürfnis aus, das »spontane Eigenaktivität« oder »Selbsttätigkeit« genannt wird und als Energie und Antriebskraft wahrgenommen wird.
Vor diesem Hintergrund kann man den Unterschied zwischen den Eigenkräften des Menschen und seinen entäußerten Eigenkräften in Gestalt der vom Menschen fabrizierten und gemachten Instrumente, auch mit der Unterscheidung zwischen »menschlichem Vermögen« und »gemachtem Vermögen« fassen (vgl. Funk 2005, S. 103-109). Gemachtes Vermögen basiert auf dem Gebrauch von Maschinen, Digitalisierung-, Vernetzungs- und Medientechniken, Steuerungsmodulen, Leitfäden, Ratgebern usw. und setzt keine Energie frei (wie die Eigen- und Antriebskräfte), sondern verbraucht Energie.
Der Doppelsinn des Begriffs »gemacht« in der Wendung »gemachtes« Vermögen ist im Blick auf die heute möglichen Inszenierungs- und Simulationstechniken bewusst gewählt: Die veräußerten Eigenkräfte sind konstruierte, fabrizierte, gemachte Kräfte. Entgrenzte Menschen sind immer die geborenen »Macher«, die alles managen. Wer deshalb auf gemachtes Vermögen setzt, dessen ureigenste Gefühle sollen durchaus gemachte Gefühle sein; er will bewusst durch eine gemachte Persönlichkeit beeindrucken. Sein Beziehungs- und Identitätserleben lässt sich als »Ich bin das gemachte Vermögen« definieren, und der andere ist für ihn das, was dieser mit Hilfe des ihm zur Verfügung stehenden gemachten Vermögens aus sich macht. Eine Beziehungspflege gibt es bevorzugt nur durch gemachte Interaktionen und deren Steuerung. Die Kindererziehung hat nicht die von Mutter und Vater zu sein, sondern die von der Zeitschrift Eltern und psychologischen Ratgebern gemachte und von den Eltern zur Anwendung gebrachte.
Die Unterscheidung zwischen »gemachtem« Vermögen und »menschlichem« Vermögen erhält ihre psychologische Brisanz durch die heute immer stärker praktizierte Inszenierung und Simulation der Persönlichkeit. Denn mit ihnen gehen eine Enteignung der »gewachsenen« Persönlichkeit und ein Verkümmern der eigenen Antriebskräfte einher. So nimmt zum Beispiel die Fähigkeit ab, noch Gefühle zu spüren, die nicht äußerlich
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