Der entgrenzte Mensch
bei einem
Radsportler im Fahrrad ein unsichtbarer kleiner Motor eingebaut wäre, der - wie bei einem Elektrofahrrad - dem Sportler mit jedem eigenen Tritt in die Pedale noch einen zusätzlichen Schub verleiht.
Der Vergleich soll hier nur illustrieren, was beim Doping der Persönlichkeit kaum noch hinterfragt wird: Wenn Menschen nicht mehr auf ihre emotionalen und geistigen Eigenkräfte setzen, sondern ihre Persönlichkeit mit Hilfe des gemachten Vermögens neu konstruieren, dann sind sie durchaus einem E-Bike-Fahrer vergleichbar, der mit nicht-eigener Kraft sehr viel zügiger daherkommt. Allerdings ist dieser E-Bike-Fahrer eigentlich kein E-Bike-Fahrer mehr, sondern ein Moped- oder Mokickfahrer, der sich nur mit Hilfe des Motors fortbewegt. Er bewegt sozusagen nur zum Schein noch die Pedale, um vor sich selbst und vor anderen den Schein aufrecht zu erhalten, aus eigener Kraft flott vorankommen zu können. Zumindest trifft dieser Vergleich auf den dominant entgrenzten Menschen zu, denn bei seiner simulierten und virtuellen Persönlichkeitskonstruktion spielen die Eigenkräfte keine Rolle mehr. Er kann die Simulation seiner Eigenaktivität so lange aufrecht erhalten, solange der Kraftstoff nicht ausgeht oder der Motor seinen »Geist« nicht aufgibt. Erst durch eine solche »Panne« wird er mit einer Realität konfrontiert, bei der er den Schein vor sich und vor anderen nicht mehr aufrecht erhalten kann.
Zweifellos sind nicht alle vom Wunsch nach Entgrenzung angetriebenen Menschen so sehr von ihren Eigenkräften abgeschnitten, dass sie - um den Vergleich fortzuführen - nicht doch noch fähig wären, auch ohne fremde Hilfe ein Stück weiter zu kommen (zumindest solange es keine »Steigungen«, sprich besondere Anforderungen zu bewältigen gibt). Angesichts der heute möglichen virtuellen Neuknstruktionen der Persönlichkeit drängt sich dennoch die Frage auf: Wie real ist eine solche virtuelle Persönlichkeit?
Dass Wirklichkeitskonstruktionen illusionär sein können, nur dem Schein nach real sind und wie Luftballons zerplatzen können,
ist nicht neu. Auch dass Persönlichkeitskonstruktionen der Realität nicht standhalten, ist nichts Neues. Sie können sich selbst dann als Illusion entpuppen, wenn sich in einer Gesellschaft aus Gründen des autoritären Unterwerfungszwangs niemand traut, der Inszenierung und Simulation zu widersprechen. Unübertroffen hat dies Hans Christian Andersen im Märchen »Des Kaisers neue Kleider« ausgedrückt, wo nur der kleine Junge die Persönlichkeitskonstruktion des Monarchen demaskiert. Er nämlich ist noch zu einer anderen, nicht-illusionären Realitätswahrnehmung fähig und »verrät« zum Entsetzen aller anderen, dass der Kaiser in Wirklichkeit nackt ist.
In Andersens Märchen wird der Schein zur Realität, weil sich außer dem kleinen Jungen niemand traut, der Autorität des Kaisers zu widersprechen. Der Kaiser bestimmt autoritär, dass der Schein Realität ist, und seine autoritätshörigen Untertanen tun nichts lieber, als sich seiner Deutungshoheit zu beugen. Heute ist es nicht die autoritäre Bevormundung durch den Monarchen, es sind die ökonomischen Zwänge, die Entgrenzungserfordernisse und Entgrenzungsangebote, die dazu führen, dass Menschen einer inszenierten Wirklichkeit und einer simulierten Realität den Vorzug geben. Ihr Interesse richtet sich auch nicht auf den Kaiser, sondern auf sich selbst, auf die Realität ihrer Persönlichkeit, die sie selbstbestimmt entgrenzen möchten. Darum ist es ihnen wichtig, auch im Besitz der Deutungshoheit über ihre Persönlichkeit zu sein, die als Freiheit und Selbstbestimmung erlebt wird.
Entgrenzte Menschen wollen nicht nur unabhängig von ihrem persönlichen Gewordensein und anderen Vorgaben selbst bestimmen können, wer sie sind, sondern auch, was an ihnen und was für sie real ist. Dieser Anspruch auf Deutungshoheit über die »gewachsene« oder simulierte Realität ihrer Persönlichkeit erklärt auch, warum sie deutende Psychotherapieverfahren (wie etwa die Psychoanalyse) zunehmend als »anmaßend« erleben. Eine Deutung etwa, dass sie mit ihrer besonderen Fürsorglichkeit oder übermäßigen Freundlichkeit »in Wirklichkeit« nur eine feindselige Strebung zu verbergen suchen, widerspricht dem
Grundstreben des entgrenzten Menschen, das, was Realität ist, selbst zu bestimmen. Die massive Ablehnung fremder Deutungsmacht hindert entgrenzte Menschen jedoch nicht daran, an den von den Medien und der öffentlichen Meinung
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