Der entgrenzte Mensch
induziert werden. Erkennbar ist dies etwa an der Zunahme von Antriebslosigkeit und Langeweile oder der verstärkten Abwehr drohender Langeweile. Die eigene Fantasietätigkeit ist immer mehr auf vorgebildete Vorstellungen und Anregungen angewiesen. Lehrangebote sollen deshalb nach Möglichkeit visualisiert werden. Auf weiten Strecken bestimmen nicht Worte, sondern Bildworte und Bilder das öffentliche Leben. Das eigene Denken und Urteilen entpuppt sich immer öfter als Reproduktion der öffentlichen Meinung und als Resultat einer Meinungsbildung schlimmstenfalls durch die BILD -Zeitung. Um das eigene Interesse spüren zu können, braucht es etwas Interessantes, das das Interesse erst
»weckt«. Um sich als unternehmungslustig zu erleben, muss erst »etwas los« sein. Die Enteignung der Eigenkräfte durch ihre Veräußerung in gemachtes Vermögen kann so umfassend sein, dass Menschen sich selbst oder etwas anderes nur noch dann erleben können, wenn ihnen ein Erlebnisangebot gemacht wird oder sie sich ein solches suchen. Um wahrnehmen zu können, dass man etwas will und aktiv wird, braucht es immer öfter erst eine »Beseelung«, eine Animation - und dies selbst dann, wenn es um das Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Liebe oder nach sexueller Befriedigung geht.
Die Enteignung der Persönlichkeit hat zur Folge, dass das Erleben des Eigenen immer weniger durch das den Eigenkräften innewohnende Aktivierungsbedürfnis ermöglicht wird. Stattdessen wird das Selbsterleben erst durch die Wirksamkeit und Aktivität veräußerter Eigenkräfte induziert und in Erfahrung gebracht. Damit sind auch wichtige psychische Antriebskräfte in das gemachte Vermögen verlegt. Das, was einen antreibt, motiviert, be-lebt, interessiert, geht nicht vom menschlichen Vermögen, sondern vom gemachten Vermögen aus. Die intrinsisch motivierte Persönlichkeit ist nur durch eine Neukonstruktion der Persönlichkeit zu erwarten und herzustellen.
Die Richtung der Aktivierung ist grundsätzlich umgedreht: Belebung, Aktivität, Wirksamkeit, Gestaltungskraft - dies alles geht statt vom Menschen von den von ihm geschaffenen Produkten aus, wobei zu den von ihm geschaffenen Produkten zunehmend auch die eigene Persönlichkeit gehört. Die Enteignung der Eigenkräfte führt zu einer »Entkräftung« und Verkümmerung der Eigenkräfte und lässt den Menschen spüren, dass es ohne die Animation durch Unterhaltung, Events und Erlebnisse vermehrt zu Gefühlen innerer Leere, Antriebs- und Leblosigkeit kommt. Gleichzeitig führt die mit der Enteignung einhergehende selbstbestimmte Neukonstruktion der Persönlichkeit zu einer Wert-und Überschätzung des Machbaren und Gemachten.
Die Idealisierung der vom Menschen inszenierten Persönlichkeit hat eine doppelte Aufgabe: Sie lässt die faktische Verkümmerung
der Eigenkräfte vergessen und schützt davor, sich der Abhängigkeit von der Persönlichkeitskonstruktion (und ihren Medien und Techniken) bewusst zu werden. Wie bedrohlich das Gewahrwerden dieser Abhängigkeit ist, weiß jeder, der plötzlich von allen Informationsquellen abgeschnitten wird, sich nicht mehr der Kontakte zu anderen versichern kann oder gar vor das Problem gestellt ist, den Abend mit sich allein verbringen zu müssen, weil ihm das Mobiltelefon gestohlen wurde. Noch schwerer ist es zu ertragen, wenn man mit seiner Persönlichkeitskonstruktion auf einmal nicht mehr gefragt ist, die auf gemachten Interaktionen und inszenierten Persönlichkeiten aufgebaute Beziehung in die Brüche geht oder man beruflich zum Verlierer wird. Wer sich in einer solchen Situation nicht ganz schnell neu erfinden kann, fühlt sich nur noch elend, ohnmächtig und wertlos, weil sein ganzes Selbstwerterleben von seiner bisher gekonnt inszenierten Persönlichkeit abhing. Die Flucht nach Vorne in eine noch besser entgrenzte Persönlichkeit scheint die einzige Alternative zu sein.
WIE REAL IST DIE VIRTUELLE PERSÖNLICHKEIT?
Vertreter eines strikten Dopingsverbots im Sport drängen darauf, beim Leistungssport nur die höchstmögliche natürliche Ausstattung mit körperlichen Eigenkräften und deren höchstmögliche Förderung und Übung gelten zu lassen. Jede Manipulation der Leistungsfähigkeit mit Hilfe von zusätzlichen, nicht-körpereigenen Substanzen und Kraftgebern soll zur Disqualifizerung des Sportlers führen. Die Begründung des Verbots kann plausibel gemacht werden, indem man darauf verweist, das Medikament oder die chemische Substanz habe eine Wirkung, wie wenn
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