Der entgrenzte Mensch
promulgierten Realitätsdefinitionen Anteil haben zu wollen, sofern diese zu ihnen passen.
Auch wenn Menschen, die ihre Eigenkräfte durch eine gemachte Persönlichkeitskonstruktion ersetzt haben, tendenziell die Frage, wie real ihre konstruierte Persönlichkeit ist, als anmaßend von sich weisen, soll ihr hier dennoch nachgegangen werden. Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die meisten entgrenzten Menschen zumindest in bestimmten Hinsichten oder Bezügen auch weiterhin kognitiv und emotional unterscheiden können, was bei ihnen selbst und bei anderen Schein und was Realität ist; auch merken sie noch, wenn sie einen anderen aus taktischen Gründen loben oder wenn sie angesichts einer außerordentlichen Leistung eines anderen in sich das Bedürfnis spüren, dies lobend anzuerkennen; ebenso kennen sie noch den Unterschied, wie man sich erlebt, wenn man ein Beziehungsproblem selbst ansprechen und lösen konnte oder wenn man es nur am Fernseher miterlebt und mitlöst.
Dass entgrenzte Menschen weiterhin fähig sind, zwischen Scheinwelt und Realität unterscheiden zu können, hat in erster Linie damit zu tun, dass die Entgrenzung der Realität und die Neukonstruktion der Persönlichkeit mit den heutigen Digitalisierungs-, Vernetzungs- und Medientechniken auf zwei Weisen bewerkstelligt werden kann: entweder durch Inszenierung oder durch Virtualisierung. Wie bereits erörtert, zielt jedoch nur die mittels Simulation bewirkte Virtualisierung auf eine Entgrenzung der Realitätsprüfung und damit auf eine Aushebelung der Unterscheidungsfähigkeit zwischen konstruierter Welt und Realität. Inszenierung und Simulation sowie ihre Unterschiedlichkeit gibt es im Übrigen nicht erst seit der Erfindung der digitalen Entgrenzungstechniken. Absolutistische Monarchen inszenierten ihre gottgleiche Allmacht nicht nur, sondern lebten in simulierten
Welten ihrer »Göttlichkeit«, waren mit diesen identifiziert und handelten entsprechend. Im Unterschied zu damals ermöglichen die heutigen Simulationstechniken allen Menschen unterschiedlichste Realitätskonstruktionen, ohne dass ihre Scheinwelten durch politische Macht legitimiert werden müssten. Darum spitzt sich die Frage zu, wie real die mittels Simulation konstruierte virtuelle Persönlichkeit ist.
Die heutigen Entgrenzungstechniken ermöglichen es immer mehr Menschen, sich in ihrem Selbsterleben nicht von den Eigenschaften und Fähigkeiten her, die sie mitbringen und durch Praxis erworben haben, zu definieren, sondern sich so zu erleben, wie sie sich gerne erleben möchten. Deshalb konstruieren sie sich selbstbestimmt ihre eigene virtuelle Persönlichkeit. Ein derart simuliertes Selbsterleben hat zwei Voraussetzungen: Der Einzelne muss willens und fähig sein, sich auf eine solche virtuelle Persönlichkeit ohne Vorbehalte einzulassen (und deshalb auch seine Fähigkeit zur Realitätsprüfung entgrenzen), so dass er diese virtuelle Realität auch zweifelsfrei als seine Realität erlebt. Diese Identifikation mit seiner virtuellen Realität kann zwar heute so und morgen anders sein, der Einzelne erlebt sie aber dennoch immer als seine Realität.
Die zweite Voraussetzung resultiert aus dem mehr oder weniger starken Angewiesensein des Selbsterlebens auf die Vorgänge in der Umwelt. Was beim Flugsimulator technisch bewältigt wird, indem jede andere Wahrnehmung von Realität ausgeschlossen wird, ist im gesellschaftlichen Miteinander nur dadurch zu erreichen, dass die konstruierte Persönlichkeit dominiert und dass die Kommunikation von virtueller Persönlichkeit zu virtueller Persönlichkeit zur Normalität wird. Dabei ist es sekundär (wenn auch unter Umständen nicht unwichtig), wie die Persönlichkeitskonstruktion im Einzelfall aussieht; entscheidend ist, dass virtuelle Persönlichkeiten als attraktiver, weil normal und gesellschaftlich erfolgreich, angesehen werden als Menschen, die sich mit ihren begrenzten Eigenkräften zu behaupten suchen.
Durch die Brille jener gesehen, die in der Virtualisierung der Persönlichkeit eine unverzichtbare gesellschaftliche Anpassungsleistung des gegenwärtigen Menschen sehen, gibt es noch immer viele nur unzureichend entgrenzte Menschen, für die die Aneignung einer konstruierten Persönlichkeit anstrengend ist. Sie schlüpfen sozusagen nur in eine Rolle und setzen eine Maske auf, während sich ein deutliches Gefühl durchhält, noch jemand anderer zu sein. Bei ihnen zeigen betrieblich verordnete oder selbst gewollte Persönlichkeitstrainings nur
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