Der entgrenzte Mensch
mäßige Erfolge. Sie können von ihrem Eigensein und von ihrem Bedürfnis, selbsttätig die eigenen Antriebe spüren zu wollen, nicht ablassen, zeigen also eine unter Umständen erhebliche Widerständigkeit gegen ihre Selbstentgrenzung durch eine simulierte Neukonstruktion ihrer Persönlichkeit.
Zu dieser Gruppe »schlecht« entgrenzter Menschen zählte auch der Schaffner im Spätzug zwischen Stuttgart und Tübingen, der zwanzig Minuten vor der Endstation in Tübingen das Kontrollieren einstellte, sich die Krawatte abnahm und eine Zigarette anzündete (was damals noch erlaubt war) und es sich im Abteil gemütlich machte. Statt mit gekonnter Freundlichkeit und angestrengtem Hochdeutsch begann er in breitestem Schwäbisch sich über die jungen Russlanddeutschen Luft zu machen, die ohne Fahrschein im Zug säßen und so täten, als verstünden sie kein Wort Deutsch. Er fühle sich da völlig überfordert: Einerseits habe er seine Schaffnerdienste pflichtgemäß zu erfüllen, andererseits ärgere er sich über die berechnende Frechheit der Jugendlichen. Doch er müsse immer korrekt und freundlich sein und dürfe ja nichts sagen, was ihm als fremdenfeindlich ausgelegt werden könnte. Deshalb sei er froh, dass jetzt Feierabend sei.
Kein Zweifel, der Schaffer hat die »Zeichen der Zeit« für sich noch nicht umsetzen können und steht wie viele andere schlecht entgrenzte Menschen auf Grund der permanenten Zerreißprobe zwischen konstruierter und »gewachsener« Persönlichkeit unter psychischem Stress. Er braucht und sucht den Ausgleich in Zeiten, Räumen, Tätigkeiten und Begegnungen, wo er endlich
wieder »ungeschminkt« er selbst sein darf. Mit einem solchen Leben zwischen unterschiedlichen Selbsterfahrungen ist er nicht allein, auch wenn andere den »Ausgleich« und die Erholung von den Anstrengungen einer konstruierten Persönlichkeit auf andere Weise suchen. Wenn diese im Garten, beim Wandern in der Natur, beim Musizieren, in der therapeutischen Selbsterfahrungsgruppe, im Urlaub, beim Sport, in der Meditation oder mit dem Lötkolben in der Hand wieder zu sich kommen und »auftanken«, dann ist dies unter der Zielvorgabe »entgrenzte Persönlichkeit« zwar verständlich, aber nicht eigentlich erwünscht. Nicht dass ihnen nicht der Ausgleich zu gönnen ist, das Lernziel »Entgrenzung der Persönlichkeit« wird auf diese Weise aber kaum gefördert und der psychische Stress wird zur Begleiterscheinung des (Berufs-)Lebens.
Bereits besser entgrenzte Persönlichkeiten zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine ausgeprägte »déformation professionelle« entwickelt haben. Das, was sie berufsbedingt an Persönlichkeitskonstruktionen erfolgreich verinnerlicht haben, hält sich auch jenseits des beruflichen Tuns durch. Der Psychologin ist ihr einfühlendes und verständnisvolles Nachfragen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie sich kaum noch zur Wehr setzen kann, wenn sie von ihrem pubertierenden Sohn angegriffen wird. Der die Wirtschaftlichkeit des Betriebs sicher stellende Controller kann auch zuhause die Frage nicht unterdrücken, ob sich die Unterhaltskosten für das Pferd der Tochter wirklich rechnen und die Ausgaben für das Pferd nicht eigentlich die größte Fehlinvestition sind. Das Phänomen der »déformation professionelle« kann verdeutlichen, wie eine konstruierte Persönlichkeit sich immer mehr von dem entgrenzt, was sie an eigener psychischen Ausstattung (an »gewachsener« Persönlichkeit) mit sich bringt.
Um sich zu einem gut entgrenzten Menschen zu entwickeln, bei der die virtuelle Persönlichkeit als die eigene und einzige (vielleicht auch einzigartige) Realität erlebt wird, bedarf es, wie bereits angesprochen, auch einer entsprechenden Umwelt. Diese spielt zunächst im beruflichen Bereich eine große Rolle, wo die
meisten Menschen heute einem erhöhten Druck zur Entgrenzung des Eigenen und zur Virtualisierung ihrer Persönlichkeit ausgesetzt sind.
Der Druck, eine andere Persönlichkeit als zu sich gehörend zu erleben, kommt in der Berufswelt im allgemeinen nicht im Gewand von Vorschriften und autoritären Anweisungen daher, sondern über eine breite Palette von Maßnahmen zur Justierung der konstruierten Persönlichkeit. Diese reichen von der gemeinsamen Ausarbeitung von Leitbildern und Zielvorgaben, von Kursen zur Persönlichkeitsbildung und von Maßnahmen zur Einübung in die corporate identity und der Übernahme ihrer Insignien (wie etwa die betriebliche Uniform, Ausstattungsmerkmale
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