Der entgrenzte Mensch
Menschen nicht mehr wahrgenommen wird, weil diese ihre »gewachsene« Persönlichkeit weitgehend ausgeblendet und durch eine virtuelle ersetzt haben.
Bevor von solchen »Ausblendungen« beim virtuellen Menschen die Rede ist, sollen zunächst unterschiedliche psychologische
Möglichkeiten erläutert werden, wie Wahrnehmungen ausgeblendet werden können. Dabei geht es nicht um die Einschränkung der sinnlichen Wahrnehmungen auf Grund von Wahrnehmungsunterdrückungen (»den Kopf in den Sand stecken«, etwas bewusst ignorieren, einfach nicht wahrnehmen, eine andere Imagination dagegen setzen usw.) oder auf Grund von Defiziten unserer Sinnesorgane (Taubheit, Blindheit, Lähmung usw.), sondern um psychische Möglichkeiten, Wahrnehmungen der Sinnesorgane, des Denkens, Erinnerns, Fantasierens sowie vor allem des Fühlens, des affektiven Reagierens und des Wollens aktiv auszublenden, das heißt vom Bewusstsein und Bewusstwerden auszuschließen. Dabei sind vor allem zwei Arten der »Selbstblendung« zu unterscheiden.
Die erste ist sozusagen der Umkehrung der militärischen Technik des Blendens vergleichbar, die zum Einsatz kommt, um dem Feind die Sicht zu nehmen: Jeder Mensch besitzt die Möglichkeit, sich selbst die »Sicht« auf Gegebenheiten (Strebungen, Konflikte, Wünsche, Selbstwahrnehmungen usw.) zu nehmen, die ihn bedrohen oder ihm auf andere Weise lästig sind. Bei einer solchen »Blendung« weiß man zwar noch immer, dass der »Feind« im Raum ist, aber er wird nicht mehr wahrgenommen. Mit der Ausblendung des Feindes ist allerdings die Bedrohung nicht aus der Welt. Sie kehrt in Symptombildungen wieder, die den Feind symbolisieren, oder wird an Dingen festgemacht, die mit dem Feind zu tun haben. Auch zeigt sie ihre unbewusste Fortexistenz in Fehlleistungen und Träumen. Wer immer wieder davon träumt, dass er etwas nicht schafft und deshalb vor Scham in den Erdboden versinken könnte, kann davon ausgehen, dass er unbewusst mit Versagens- und Schamgefühlen zu kämpfen hat, die ihm im bewussten Erleben völlig fremd sind. Die Psychoanalyse nennt diese Art des Ausblendens »Verdrängung«.
Die andere Art der »Blendung« knüpft an die noch ältere Bedeutung von »Blenden« an. Hier meint »Blenden«, dass die Wahrnehmungsorgane selbst - bei der Blendung also die Augen - zerstört werden (etwa als Strafe, um Dieben das Stehlen zu verunmöglichen).
Ins Psychologische gewendet bedeutet dies, dass Menschen auch fähig sind, sich selbst in diesem Sinne zu blenden. Sie halten das vom Bewusstsein und Bewusstwerden, was sie bedroht oder was ihnen unerträglich scheint, dadurch von sich fern, dass sie die Wahrnehmungsfähigkeit in diesen Hinsichten und im Blick auf sich selbst verleugnen. Diese verleugnende Art des Ausblendens schließt alles, was mit dem Bedrohlichen oder Unerträglichen verbunden ist, aus dem eigenen Erlebensbereich aus, so dass das Bedrohliche nur noch abgespalten vom eigenen Erleben wahrgenommen wird: Es sind dann die anderen Menschen, der »Feind«, die Mächte des Bösen, die einen bedrohen und verfolgen und deshalb bekämpft werden müssen. Auch der eigene Körper kann zur Abspaltung dienen und wird dann als ein bedrohliches Gegenüber wahrgenommen, das einen verfolgt und leiden macht, mit dem man auf Kriegsfuß steht und dessen Kranksein bekämpft werden muss.
Zu verdrängen und abzuspalten sind die wichtigsten psychischen Möglichkeiten, bestimmte äußere und innere Realitäten auszublenden. Dabei sind zahlreiche Abstufungen der Spaltung zu beobachten (vgl. Elkin 1991; Scharfetter 1999). So subjektiv entlastend der (unter Umständen überlebenswichtige) Einsatz der verdrängenden und verleugnenden Selbstblendungen auch empfunden werden mag, er verbraucht dennoch meist viel an psychischer Energie und macht den Menschen - wenn auch auf andere Art - noch mehr leiden. Müssen bestimmte Aspekte von einem selbst in der Verdrängung gehalten werden, dann braucht es eine Menge Kraft, ihre aufdringliche Art, mit der sie ins Bewusstsein zurückzukehren versuchen, zu bekämpfen. So kostet die unbewusste Feindseligkeit gegen ein ungewolltes Kind, das einem die Karriere vermasselt hat, viel Kraft in Gestalt von erhöhter Fürsorglichkeit und Förderung des Kindes, mit denen die Rückkehr der Feindseligkeit ins bewusste Erleben abgewehrt wird.
Dieser Energieaufwand sieht bei der Verleugnung etwas anders aus: Je mehr beim Ausblenden Aspekte des Eigenen abgespalten
werden müssen, desto mehr Projektionen finden
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