Der entgrenzte Mensch
starke Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen von Ohnmacht, Verlorenheit oder Hilflosigkeit haben und deshalb mit jenen, die psychisch leiden, die ohnmächtig, isoliert und abhängig sind, mitfühlen können. Menschen mit einer virtualisierten Persönlichkeit und solche, die sich bevorzugt in virtuellen Parallelwelten aufhalten, haben eine andere Lösung gefunden: Sie haben in Persönlichkeitstrainings gelernt, wie man sich - unabhängig von der eigenen, auch schmerzlichen, Vorfindlichkeit - autonomer, stärker, selbstbewusster, interessierter und interessanter sowie sozial kompetenter erlebt; sie tauchen in virtuelle Welten ein, in denen man mit all jenen unerträglichen Selbstwahrnehmungen nicht in Berührung kommt, weil man mit den diesen entgegengesetzten Rollen und Charaktermerkmalen identifiziert ist.
Die Flucht in virtuelle (Parallel-) Welten lässt sich besonders häufig dort beobachten, wo es um die Vermeidung eines negativen Selbsterlebens geht, das aus Täuschungen und Enttäuschungen sowie aus Versagen und Versagungen resultiert. Wer sich im Partner getäuscht hat oder von der Partnerin enttäuscht wurde, hat ebenso mit negativen Selbstwahrnehmungen zu kämpfen wie der, der im Beruf oder leistungsmäßig versagt hat, oder dem eine Versagung oder Ablehnung zugemutet wird und der deshalb enttäuscht ist. Die Not, Versagungs- und Enttäuschungsgefühle so unerträglich zu empfinden, dass sie nicht auszuhalten sind, ist der Hauptgrund für eine Flucht in virtuelle Welten und eine der wichtigsten Ursachen für die Entwicklung von Abhängigkeitserkrankungen. Auch für die Spiele- und Online-Sucht gilt, dass diese Abhängigkeitserkrankungen ihre Ursprünge hauptsächlich in der Vermeidung schmerzlicher Gefühle haben (vgl. Bergmann und Hüther 2007).
DOPING DER SEELE KANN SÜCHTIG MACHEN
Bei der Frage, welche Langzeitwirkungen beim Doping der Seele mit Hilfe von Inszenierungen und Virtualisierungen der eigenen Persönlichkeit zu erwarten sind, wurde gezeigt, wie es zum Verlust der psychischen Eigenkräfte und Antriebskräfte und zu einer zunehmenden Abhängigkeit von gemachtem Vermögen kommt. Auch wurde verschiedentlich auf die Gefahr der Entwicklung einer Abhängigkeitserkrankung hingewiesen. Ob es zu einer solchen kommt, hängt im Einzelfall immer auch noch von anderen Faktoren ab. Dass die Gefahr groß ist und die Häufigkeit von Suchterkrankungen gerade in den hoch industrialisierten Ländern ständig zunimmt, steht außer Zweifel. So stehen in den USA die Kosten für Drogenentzugsprogramme an der Spitze sämtlicher Ausgaben im Gesundheitswesen (vgl. Wilkinson und Picket 2009, S. 99)
In psychologischer Perspektive richtet sich das Augenmerk auf das Ich des Menschen, das durch die Entgrenzung der Persönlichkeit mit Hilfe von Inszenierung und Virtualisierung gedopt wird, um autonomer, freier, kompetenter, leistungs-, gestaltungs-und genussfähiger - also insgesamt stärker zu sein. Die Gefahr, gerade durch das Leben in virtuellen Welten abhängiger zu werden und dabei eine Abhängigkeitserkrankung zu entwickeln, legt den Schluss nahe, dass es als Langzeitwirkung des Dopings der Seele zu einer Schwächung des Ichs kommt. Dies kann zum einen ein Blick auf jene Indikatoren verdeutlichen, die für die Diagnose von (auch nicht-stofflichen) Abhängigkeitserkrenkungen erkannt wurde, zum anderen ergibt sich dieser Schluss, wenn man auf das Schicksal wichtiger Ichfunktionen bei Menschen blickt, die auf die Virtualisierung ihrer Persönlichkeit setzen und sich vermehrt in virtuellen Parallelwelten aufhalten.
Anders als bei stoffgebundenen Abhängigkeitserkrankungen, wo die Weltgesundheitsorganisation einen klaren, sechs Punkte
umfassenden Kriterienkatalog für die Diagnose entwickelt hat, gibt es für nicht-stoffliche Abhängigkeitserkrankungen auf Grund von süchtigem, exzessivem Verhalten keine allgemein anerkannte diagnostische Kriteriologie. Die entwickelten Kriterien sowohl für die substanzgebundenen wie für die nicht-stofflichen Suchtformen (vgl. Thalemann 2009, S. 3-6) orientieren sich einerseits am starken Verlangen nach Belohnung und andererseits an Einbußen bei der Realitätskontrolle und Impulssteuerung, sehen also in Defiziten der Ichfunktionen entscheidende Dispositionen für Abhängigkeitserkrankungen.
An einer Abhängigkeitskrankheit im Sinne der Weltgesundheitsorganisation leidet jemand, bei dem in den letzten 12 Monaten von folgenden sechs
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