Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
Vom Netzwerk:
quälenden Strebungen oder gar in dem Wunsch, Herr über Leben und Tod sein zu wollen und alles Lebendige in Totes verwandeln zu können. Erich Fromm (1964; 1973) hat diese Art, verfügen zu wollen, »nekrophil« genannt (»nekros« ist das Tote, das Leblose), weil sie über alles Lebendige in einer todbringenden Weise zu verfügen trachtet.
    Im Blick auf den virtuellen Menschen gilt auch hinsichtlich des Ausblendens von Gefühlen, die mit Trennung einhergehen: Sie kehren wieder in einem gesteigerten Bedürfnis, und zwar in dem Wunsch, über sich und andere verfügen und sich als Herr über Leben und Tod erleben zu können. Da für die meisten dies nur ansatzweise in der vorgegebenen, öffentlichen, privaten und beruflichen Welt ausgelebt werden kann, weil sie in dieser Welt nicht selbst am »Drücker« sind und sich nur ohnmächtig erleben, gewinnen virtuelle Parallelwelten und virtualisierte Lebensbereiche eine zunehmende Bedeutung, um mit Trennungsgefühlen
wieder in Kontakt kommen und sie ausleben zu können.
    In diesem Kontext sollte die Frage von Gewaltspielen in virtuellen Welten gesehen und berücksichtigt werden, dass die Bereitschaft zur Gewaltausübung in realer, vorgestellter, inszenierter, symbolisierter oder virtueller Weise sich in dem Maße steigert, als Menschen keine Trennungsgefühle zu spüren imstande sind und sich deshalb auch nicht aus eigenen Kräften aus Abhängigkeiten befreien können. Der Mangel an eigenen gefühlten Trennungskräften verstärkt nicht nur die Abhängigkeit, sondern macht auch ohnmächtig, sich gegen jede Form von realer Abhängigkeit zur Wehr zu setzen. In der Folge kommt es zu einer Potenzierung des Verfügenwollens mittels Gewaltausübung und zu einer objektiven Steigerung der Gewaltbereitschaft. Diese Feststellung sagt aber noch nichts darüber aus, auf welcher Ebene die Gewaltausübung stattfindet: ob auf der realen, vorgestellten, virtuellen oder auf symbolisierten Ebene (wie in der Kunst, in Ritualen oder Träumen).
    Dass sich virtuelle Gewaltspiele als scheinbare Lösung anbieten und die potenzierte Gewaltausübung vor allem in kriegerischen Parallelwelten gesucht wird, ist ein nahe liegender Schluss. In ihnen lässt sich jedes Gefühl von Abhängigkeit ausblenden und können die mit Trennungsvorgängen einhergehenden aggressiven Gefühle ungeniert ausgelebt werden, ohne dass sie eine direkte Auswirkung auf das reale soziale Miteinander haben. Dass eine solche Lösung dennoch das Bedürfnis nach Gewalterfahrung steigert und von virtuellen Parallelwelten abhängig macht, wird meist mit ausgeblendet bzw. damit rationalisiert, dass es ja nur ein Spiel sei. Zu fragen ist dennoch, wie oft ein solches Spiel gesucht werden muss und wie sehr sich das Bedürfnis nach Gewalterfahrung zugleich auch im realen Leben manifestiert. Wenn Menschen sich im realen Leben für Kriege, Tötungsdelikte, Massaker, Folter, Naturkatastrophen interessieren und sich vom Destruktiven in besonderer Weise angezogen fühlen, dann ist dies ein deutlicher Hinweis auf ein gesteigertes Bedürfnis nach Gewalterfahrung.

POSITIVES DENKEN SCHAFFT FEINDBILDER
    Eigene Gefühle, die mit Bindung und Trennung einhergehen, sind wichtige Antriebskräfte für das Beziehungs- und das Selbsterleben. Sie sind jedoch nicht die einzigen, die der virtuelle Mensch mit großer Regelmäßigkeit ausblendet, um seine Seele zu »dopen«. Ein heute allgemein akzeptiertes psychisches Dopingmittel ist das positive Wollen, Denken, Fühlen und Handeln. Gelingt es Menschen, ihre eigene Persönlichkeit so zu virtualisieren, dass sie nur noch Positives für sich und andere wollen und fühlen, dann werden in ihnen und auch in den anderen verstärkt die neuronalen Belohnungszentren angesprochen und entsprechende neuronale Vernetzungen verstärkt, so dass alle eher negativ erlebten Gefühle und Selbstwahrnehmungen in den Hintergrund treten. Psychologisch formuliert kann es zu einer solchen Virtualisierung der Persönlichkeit nur kommen, wenn negativ erlebte (»wehtuende«, schmerzliche) Gefühle anderen gegenüber, aber auch negativ erlebte Selbstgefühle weitgehend ausgeblendet werden.
    Wie sehr die Fähigkeit, sich und andere akzeptieren, wertschätzen und lieben zu können, mit der Ideologie des positiven Wollens, Denkens, Fühlens und Handelns gleichgesetzt wird, zeigt sich am deutlichsten im Umgang mit den eigenen negativen Gefühlen sich und anderen gegenüber und im Umgang mit der Wahrheit. Wertschätzen und lieben kann man

Weitere Kostenlose Bücher