Der entgrenzte Mensch
empirisch gut belegt.
ENTGRENZUNGSSTREBEN SCHWÄCHT DAS ICH
Eine der wichtigsten Aufgaben des Ichs eines Menschen ist die Realitätsprüfung , also jene Fähigkeit, die bereits ausführlich bei der Unterscheidung zwischen Realität und Virtualität zur Sprache kam. Sie ermöglicht dem Menschen, zwischen äußerer und innerer, vorgestellter und tatsächlicher, virtueller und inszensierter Realität zu unterscheiden, aber auch zwischen tatsächlicher und erhoffter oder gewünschter Wirklichkeit, zwischen irrationaler und rationaler Hoffnung, illusionärer und realer Utopie, zwischen Wunschdenken und zielführendem Handeln usw. Mit
dieser Unterscheidungsfähigkeit überprüfen wir den Realitätsgehalt einer Idee oder eines Wunsches, und sie steht hinter dem, was wir Wirklichkeitssinn und Realismus nennen.
Im Kontext des Entgrenzungsstrebens hat die Realitätsprüfung vor allem die Aufgabe, den Menschen mit äußeren und inneren Grenzen und Begrenztheiten zu konfrontieren. Innere Grenzen sind dabei verinnerlichte Sollens-, Wollens- und Verbotsforderungen, die seinem Begehren und seinen Impulsen dadurch Grenzen setzen, dass diese auf ihre Realitätsangemessenheit überprüft und also mit der Realität konfrontiert werden. (Dies ist unter »Impulskontrolle« als Teil der Realitätskontrolle zu verstehen.) Solche Fronten und Einschränkungen zu beseitigen, ist aber der erklärte Wille des entgrenzten, insbesondere des virtuellen Menschen. Die Bevorzugung virtueller Welten und die Aneignung einer virtuellen Persönlichkeit werden ja gerade von dem Wunsch geleitet, einer begrenzten und durch die Realitätsprüfung in Grenzen gehaltenen Wirklichkeit und einem begrenzten Selbsterleben zu entkommen, um den eigenen Impulsen und der Spontaneität eine freie Entfaltungsmöglichkeit zu geben. Entgrenzte Menschen tun sich deshalb ausgesprochen schwer, Grenzen und eigene Begrenztheiten in Form von inneren Schranken oder schicksalshaften Fügungen anzuerkennen und mit weniger zufrieden zu sein. Werden ihnen vom Partner oder Vorgesetzten Vorgaben und Grenzziehungen zugemutet, brechen sie lieber das Projekt ab, wechseln die Stelle oder fangen eine neue Beziehung an. Die Not, Grenzen und begrenztes Vermögen, anzuerkennen, wird mit dem eigenen Älterwerden immer größer. Viele der sog. Senioren verleugnen deshalb einfach das Leiden am Altern und sind die Vitalsten und Mobilsten überhaupt. Andere beschäftigen sich intensiv mit den Möglichkeiten der Sterbehilfe bzw. einer Altersvorsorge, die sie davor bewahrt, sich in die Abhängigkeit von einer Pflegeeinrichtung begeben zu müssen. Kurzum: Äußere und innere Grenzen anzuerkennen und sich einer auf Grenzziehungen pochenden Realitätsprüfung und Impulskontrolle auszusetzen, gehört nicht zu den Stärken eines entgrenzten Ichs.
Eine zweite, hier relevante Fähigkeit des Ichs ist seine Ambivalenzfähigkeit . Das Wort »Ambivalenz« kommt aus dem Lateinischen. »Ambi« heißt »beides« und »valenz« kommt von »valēre« und bedeutet so viel wie »gelten«, »wert sein«. Wenn jemand umgangssprachlich sagt, dass er gegenüber einem anderen Menschen ganz ambivalente Gefühle hat, dann drückt er damit aus, dass er den anderen sowohl positiv als auch negativ wahrnimmt und auf diesen anderen sozusagen beide Gefühle gültig sind. Dies ist denn auch die generelle Bedeutung von Ambivalenz: dass man sich, andere Menschen und generell die Wirklichkeit um einen herum sowohl positiv als auch negativ, als befriedigend und versagend, als beglückend und beängstigend wahrnimmt und erlebt.
Diese ambivalente gefühlsmäßige Wahrnehmung kann auch in einem Wahrnehmungsproblem des Menschen ihren Grund haben; im Allgemeinen aber spiegelt sie die Doppelgesichtigkeit, Ambiguität (Mehr-, Doppel- oder Zweideutigkeit) oder Polarität von Wirklichkeit auf der Erlebensebene wider, so dass die Ambivalenzfähigkeit eine unerlässliche Hilfe für eine realitätsgerechte Wahrnehmung darstellt. Wir nehmen die Natur, die Technik, die Gesellschaft, andere Menschen und uns selbst sowohl in ihren für uns segensreichen, aber auch belastenden Aspekten war. Natürlich gibt es Augenblicke, in denen wir uns nur glücklich oder nur elend fühlen und einen anderen als große Bereicherung oder nur als pure Belastung erleben. Doch es sind in der Regel zeitlich begrenzte Momente. Sicher wünschen wir uns, immer im Glück oder verliebt sein zu können, aber bei näherer Betrachtung ist dies ein frommer Wunsch, weil jeder
Weitere Kostenlose Bücher