Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
Vom Netzwerk:
Kriterien mindestens drei gleichzeitig vorhanden waren: (1) Es muss ein starker Wunsch oder eine Art Zwang vorhanden sein, psychotrope Substanzen zu konsumieren; (2) dabei muss eine verminderte Kontrollfähigkeit zu beobachten sein, wenn jemand zum Stoff greift, wie viel er konsumiert und wann er mit der Konsum aufhört; (3) es müssen substanzspezifische Entzugssymptome feststellbar sein oder Maßnahmen, die die Entzugssymptome mildern; (4) es muss zu einer Toleranzerhöhung kommen (um die gleiche Wirkung zu erzielen, müssen die Dosen erhöht werden); (5) es muss eine Vernachlässigung anderer Interessen zugunsten des Substanzkonsums beobachtbar sein (zum Teil auch ein erhöhter [Zeit-] Aufwand, um sich Substanzen zu beschaffen oder sich von deren Konsum zu erholen); (6) der Konsumierende muss um die nachteiligen Folgen wissen, ohne dass dieses Wissen Einfluss auf seinen Konsum hätte (vgl. a.a.O., S. 3f.).
    Für eine Abhängigkeit von exzessivem Verhalten (Arbeitssucht, Beziehungssucht, Kaufsucht, virtuelle Spiele-Sucht, Glücksspielssucht, Online-Sucht usw.) wurde ein Kriterienkatalog entwickelt, der der Besonderheit von Verhaltenssüchten in zusätzlichen Kriterien gerecht zu werden versucht (vgl. Grüsser und Thalemann 2006). Da es bei den nicht-stofflichen Abhängigkeitserkrankungen meist um ein ins Maßlose gesteigertes Verhalten geht,
spielen hier zum Beispiel die Häufigkeit des Verhaltens und die Fähigkeit, das Risiko und die Intensität kontrollieren zu können, eine besondere Rolle. Auch muss das exzessive Verhalten als unmittelbar belohnend erlebt werden. Mit zunehmender (vor allem psychischer) Abhängigkeit wird das Verlangen nach exzessivem Verhalten stärker als unwiderstehlich, d.h. oft auch als unangenehm und quälend empfunden - ohne allerdings den Zwang zum Vollzug des Verhaltens beeinflussen zu können; so stellt sich oft auch ein stärkerer Leidensdruck ein. Auffällig ist eine oft irrationale und verzerrte Wahrnehmung im Vollzug des exzessiven Verhaltens.
    Ein nicht zu unterschätzender »Vorteil« der Verhaltenssüchte ist ihre Unabhängigkeit von der Stoffbeschaffung (so dass das Suchtverhalten auch nicht durch das Vorenthalten von Substanzen erschwert werden kann). Weil der Kranke mit seinem Verhalten den Belohnungszustand im Gehirn erzeugen kann, vermag er diesen Zustand oft direkter, leichter und schneller herzustellen und über ihn zu verfügen, als wenn es sich erst die Mittel dafür beschaffen müsste. Es kommt hinzu, dass zumindest manche Verhaltenssüchte kein Geld kosten. (Mit der Arbeitssucht lässt sich sogar Geld verdienen.)
    Welche Macht das »Eingespurtsein« auf ein entgrenztes Belohnungserleben bei Abhängigkeitskranken hat, zeigt sich vor allem daran, dass wichtige Fähigkeiten des Ichs nur eingeschränkt oder gar nicht zur Verfügung stehen. So ist die Fähigkeit, die Realität kontrollieren zu können, massiv eingeschränkt: Der Kranke sieht nur die Belohnung, nicht deren vorübergehende Wirkung, gesundheitliche Schädigung, die Abhängigkeitsdynamik, aus der heraus er handelt, die drohenden Entzugssymptome. Er ist weitgehend unfähig, den Anforderungen der Umwelt und einer bestimmten Situation entsprechen zu können. Er kann seinen Wunsch und sein Bedürfnis weder aufschieben noch auf andere Ziele verschieben, noch sich versagen noch sich mit weniger zufrieden geben noch es vernünftig und in Maßen steuern und kontrollieren. Der Sog, sich belohnen zu müssen, ist so groß, dass
der Abhängige zu jeder Scheinbegründung vor sich und anderen bereit ist, für alle kritischen Stimmen kein Ohr mehr hat, und die Folgen seines Verhaltens einfach ausblendet. Sein Ich kann nichts mehr ausrichten angesichts des unerbittlichen Verlangens (»craving«) nach Belohnung, so dass er sein eigenes Wollen dem entgrenzten Belohnungs-Verlangen übereignet.
    Zweifellos leiden Abhängigkeitskranke an einem schwachen Ich und wird ihr Ich durch die Suchtdynamik immer noch mehr geschwächt. Wenn nachfolgend noch einmal auf das faktisch geschwächte Ich entgrenzter Menschen als Folge des Dopings der Seele hingewiesen wird, dann wird damit keine zwingende Kausalität zwischen Entgrenzungsstreben und Abhängigkeitserkrankung behauptet. Eine deutliche Disponiertheit auf Grund des geschwächten Ichs entgrenzter Menschen lässt sich aber psychologisch sehr wohl aufzeigen und ist gerade im Blick auf Abhängigkeitserkrankungen auf Grund exzessiven Gebrauchs virtueller Realitäten inzwischen auch

Weitere Kostenlose Bücher