Der entgrenzte Mensch
sich und andere nur, wenn man die Schattenseiten, das Schwierige und Kritische bei sich und bei anderen nicht ausblendet, sondern auch zu akzeptieren, wertzuschätzen, ja zu lieben imstande ist.
Reduziert man die Wahrnehmung der Gefühle, mit denen man auf sich und andere bezogen ist, auf nur positiv erlebte, das heißt auf solche, mit denen man sich und andere belohnt und aufwertet, dann kommt es zu einer Idealisierung von sich und anderen. Ist diese stark ausgeprägt, stellt eine solche Idealisierung des Beziehungserlebens eine Virtualisierung der eigenen Persönlichkeit
dar, bei der man sich und anderen gegenüber nur Positives spürt. Damit allerdings wird nicht nur die Wahrheit gebeugt, sondern muss auch alles ausgeblendet werden, was die Betreffenden an skeptischen und ambivalenten Gefühlen, an Zweifeln, Vorbehalten und Kritik, an Neid und Eifersucht, an Ablehnung, Feindseligkeit und Hass, an Impulsen zu entwerten und zu verurteilen sich selbst und anderen gegenüber spüren - und zwar unabhängig davon, ob solche negativ erlebten Gefühle einen realen Grund haben oder den eigenen Neurotizismen geschuldet sind. Sie haben einfach in der Beziehungswahrnehmung und bei der Gestaltung der Beziehung nichts mehr zu suchen.
Das Problematische an jeder Idealisierung sind nicht die Ideale, die jemand vertritt, auch nicht das Ideal, Dinge, sich selbst und andere positiv wahrnehmen zu können. Idealen wohnt auch keine Destruktivität inne, wie der Buchtitel Alles oder nichts. Über die Destruktivität von Idealen (Schmidbauer 1980) suggeriert. Es geht, wie Erich Fromm (1962, S. 124) betont, nicht darum, »die Ideale herabzusetzen, sondern (darum) nachzuweisen, dass sie in Ideologien verwandelt wurden, und die Ideologie im Namen des verratenen Ideals zu bekämpfen.« Zu einer solchen Ideologie verkommt das Ideal, sich und andere positiv akzeptieren, wertschätzen und lieben zu können, wenn Beziehungen nur noch idealisierend wahrgenommen und gestaltet werden.
Jede Idealisierung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen geht mit zum Teil massiven Ausblendungen von allem, was der Idealisierung widerspricht, einher. Die ausgeblendeten Aspekte der Realität sind damit aber nicht einfach aus der Welt. Sie werden auf Sündenböcke und Feinde projiziert und dort entwertet, bekämpft und auf Distanz gehalten. Die Notwendigkeit von Feindbildern und die spaltende Aufteilung der Wirklichkeit und der Menschen in entweder gute oder schlechte, in solche, die entweder zu einem selbst bzw. zu uns gehören oder solchen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen, in entweder Gewinner oder Verlierer usw., sind immer ein Indiz dafür, dass Beziehungsaspekte ausgeblendet und abgespalten werden. Aus dem Sowohl-Als-Auch wird
ein Entweder-Oder. Jede Idealisierung nötigt zu einer Entwertung . Die in der Ideologie des positiven Wollens, Denkens, Fühlens und Handelns praktizierte Idealisierung der Beziehung zu sich selbst und zu anderen macht hier keine Ausnahme.
VERMEIDUNG SCHMERZLICHER SELBSTGEFÜHLE FÜHRT ZU ABHÄNGIGKEIT
Entgrenzte Menschen, die auf eine Virtualisierung ihrer Persönlichkeit setzen und sich mit der Idealisierung ihrer Beziehung zu sich selbst und zu anderen »dopen«, zeigen nicht nur einen auffälligen Verlust an kritischem und selbstkritischem Vermögen; mindestens ebenso deutlich ist ihre Not, negative und schmerzliche Selbstgefühle und Befindlichkeiten wahrnehmen und aushalten zu können. Es gibt eine Reihe von negativ erlebten Selbstgefühlen, die für jeden Menschen ziemlich unerträglich sind: Sich ohnmächtig und wehrlos zu fühlen, verloren und isoliert, schwach und hilflos, nur noch angewiesen und abhängig zu erleben, ist kaum zu ertragen. Die Wahrnehmung dieser Gefühle wird deshalb meist gemieden und mit ihnen entgegengesetzten Aktivitäten abgewehrt. Ohnmacht etwa wird mit Aggressivität und Machtgehabe, Wehrlosigkeit mit einer gesteigerten Wehrhaftigkeit und einem entsprechenden Sicherheitsstreben abgewehrt; Gefühlen von Verlorenheit und Isolierung wird mit demonstrierter Kontaktfreude und betonter Geselligkeit gegengesteuert; sich schwach und hilflos erleben zu müssen, lässt sich mit Selbstbezeugungen der Stärke, eigener Wirkmächtigkeit und mit einem ausgeprägten Helfersyndrom überwinden. Wer sich angewiesen oder gar abhängig erleben müsste, nimmt Zuflucht zu dem, was
sein Ich alles kann, wie autonom er doch ist und welche Freiheit er sich - ganz spontan - zu nehmen imstande ist.
Wirklich
Weitere Kostenlose Bücher