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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Mensch immer wieder von der ambiguen und durch Polaritäten gekennzeichneten Realität eingeholt wird.
    In psychologischer Perspektive ist die Ambivalenzfähigkeit eine wichtige Errungenschaft der psychischen Entwicklung und signalisiert ein starkes Ich. Zu Beginn seines bewussten Lebens vermag der Mensch nämlich die ambigue Wirklichkeit und sich selbst nur gespalten in einem Entweder-Oder wahrzunehmen, muss also negative Aspekte (durch Projektion) von sich fern
halten. Es bedeutet deshalb einen großen Entwicklungsschritt, wenn ein Kind seine Mutter nicht mehr ausschließlich nur als gute Mutter wahrnehmen muss, während alle versagenden Aspekte dieser Muttererfahrung auf dunkle Mächte, verschlingende Krokodile oder bedrohliche Hexen projiziert werden müssen, sondern wenn es fähig wird, die Mutter heute als die Liebste auf der ganzen Welt und morgen als »blöde Kuh« wahrzunehmen. Der entscheidende Punkt ist, dass die Mutter schließlich für das Kind beides zugleich sein kann, denn in Wirklichkeit und in ihren Wirkungen ist sie und muss sie beides sein: wertschätzend und kritisierend, befriedigend und versagend, zugewandt und sich abgrenzend usw. Die Mutter kann weder auf Dauer grenzenlos gut, zugewandt und befriedigend sein, noch würde es dem Kind gut tun, wenn die Mutter sich nicht auch abgrenzen würde. Was für die Wahrnehmung der Mutter gilt, lernt das Kind schließlich auch hinsichtlich seines Selbsterlebens: dass auch dieses ambigue ist und eine Ambivalenzfähigkeit erforderlich macht.
    Ambivalenzfähigkeit bedeutet also, sich und die Wirklichkeit zugleich sowohl positiv als auch negativ erleben zu können, ohne die je andere Seite ausblenden und abspalten zu müssen. Sie ermöglicht nicht nur ein realitätsgerechtes Selbst- und Objekterleben, sondern ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für ein einigermaßen friedliches Zusammenleben: Jeder versucht, die Schattenseiten des Lebens bei sich selbst aufzuspüren und wahrzunehmen und kann so darauf verzichten, diese auf den anderen zu projizieren und ihn zum Feind zu erklären, der für alles Konflikthafte, Versagungsvolle, Destruktive und Schmerzhafte verantwortlich gemacht wird.
    Für den nach Entgrenzung strebenden Menschen ist das ambigue Erleben der Wirklichkeit und des eigenen Selbst allerdings ein Stachel im Fleisch, den es zu überwinden gilt. Er will alles, was das positive Selbsterleben begrenzt und belastet, aus der Welt schaffen. Weil er in seinem Entgrenzungsstreben davon überzeugt ist, dass man Grenzen und Begrenzendes beseitigen bzw. ausblenden muss, sieht er in der Ambivalenzfähigkeit ein Hindernis,
das ihn davon abhalten möchte, sich selbst mit Hilfe von Inszenierung und Virtualisierung eine Welt und ein neues Selbsterleben zu schaffen, das frei von Ambiguitäten und ambivalenten Erfahrungen ist.
    Die vor allem mit der Virtualisierung einhergehende »Deaktivierung« der Ambivalenzfähigkeit führt, wie bereits gezeigt wurde, zum Ausblenden und zur Abspaltung aller schmerzlichen, belastenden oder sonst wie negativ erlebten Selbstgefühle und zu deren Projektion, wodurch das Ich der Betreffenden entscheidend geschwächt und das Zusammenleben konfliktreicher und feindseliger wird.

    Noch eine dritte Fähigkeit und Stärke des Ichs soll hier thematisiert werden, weil auch sie gerade bei Menschen, die bevorzugt in virtualisierten Welten leben, verkümmert: die Frustrationstoleranz . Damit ist die Fähigkeit des Ichs gemeint, die Enttäuschung einer Erwartung oder die Versagung eines Wunsches zu ertragen (zu tolerieren, auszuhalten). Das lateinische »frustratio« bezeichnet die »Enttäuschung einer Erwartung« und legt damit auch den Zusammenhang nahe, dass Frustration mit einer falschen Erwartung oder mit einer Täuschung (Illusion) zu tun hat, die als Täuschung überführt wird, so dass es zu einer Ent-Täuschung (DesIllusionierung) kommt. Im Psychologischen wurde der Begriff Frustration stärker mit einer gewollten Erwartung in Verbindung gebracht, also mit Wünschen, Bedürfnissen, Begehrlichkeiten, die durch die Begrenztheit der Mittel, durch äußere Grenzziehungen oder verinnerlichte Regeln versagt werden. Da Enttäuschungen und Versagungen aggressive Reaktionen hervorrufen können, wurde der Zusammenhang von Frustration und Aggression eingehend untersucht und die Frage virulent, wie viel Frustration ein Mensch tolerieren kann, bzw. tolerieren können sollte.
    Wie schwierig und mühsam die Entwicklung der Fähigkeit zur

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