Der entgrenzte Mensch
unterstreicht den Gemeinschaftsaspekt dieses Spiels und attestiert dem gewaltdominierten Computerspiel eine entspannende und solidaritätsfördernde Wirkung. Begründet wird eine solche Deutung mit den gehäuften Aussagen der befragten Spielerinnen und Spieler; diese fühlten sich beim Spielen vor allem mit anderen verbunden und erlebten im gemeinsamen Kampf gegen den Feind etwas Solidarisches. Messungen vor und nach dem Spiel zeigten einen aktuell reduzierten Aggressionspegel der Befragten nach dem Spiel.
Die empirischen Befunde sind ein guter Beleg dafür, wie sehr der Verlust eigener Bindungsgefühle zu einem (oft nicht bewussten) Isolierungserleben führt. Ohne eigene Bindungsgefühle gibt es kein gefühltes Verbundensein mehr, und fühlen sich Menschen zunächst verloren. Das Isolierungserleben ist lebensbedrohlich und mobilisiert eine tiefe Angst und Überlebensaggression. Es kommt zu einer psychischen (und oft auch körperlichen) Stress-Situation, die mit einem Bindungserleben durch inszenierte und virtuelle Welten bewältigt wird. Deshalb sind etwas verfremdete, virtuelle kriegerische Überlebenskämpfe ein besonders geeignetes Medium, um das Isolierungserleben auf Grund fehlender eigener Bindungsgefühle zu überwinden. Eben weil es innerlich um Leben oder Tod geht, bedarf es starker zerstörerischer Kräfte, um das eigene Isolierungs- und Ohnmachtgefühl zu bekämpfen und aus der Welt zu schaffen. Darum auch müssen solche Spiele so konstruiert sein, dass es in dieser virtuellen Welt vor allem auf das Verbundensein mit anderen, die in der gleichen
Situation sind, ankommt, auf eine gemeinsame Strategie und das gemeinsame, solidarische Agieren.
Die Frage, ob kriegerische Online-Spiele wie »World of Warcraft« (Jahresumsatz ca. eine Milliarde US-Dollar; geschätzte Zahl der Spieler weltweit über 100 Millionen) die Aggressionsbereitschaft fördern oder reduzieren, trifft nicht das Problem. Sicher ist, dass der Verlust eigener Bindungsgefühle zu einem Isolierungserleben führt, das Aggressivität mobilisiert - eine Aggressivität, die mit der Nutzung von Mitteln der Gewalt im gemeinsamen Kriegsspiel reduziert wird, weil virtuelles Erleben neurobiologisch und psychologisch ähnliche Effekte hat wie reales. Das eigentliche Problem ist nicht der Bewältigungsmechanismus, sondern die Tatsache, dass immer mehr Menschen Zuflucht nehmen zu fantasierten, inszenierten und virtuellen Welten der Gewalt. Vor allem aber ist zu fragen, warum sie dies tun.
Unter vielen möglichen Antworten (wie etwa, dass Aggressivität im sozialen Miteinander kaum noch ausgelebt werden darf und kann) ist dabei eine Antwort psychologisch sehr erhellend, nämlich dass die Zuflucht zu virtueller Gewalt mit dem als lebensbedrohlich gefühlten Verlust der eigenen Bindungsgefühle zu tun hat. Die Wahrnehmung, andere nicht mehr aus eigenen Beziehungskräften und Antrieben spüren zu können, ist bedrohlich und nötigt dazu, sich in virtuellen (Spiele-) Welten mit anderen verbunden zu erleben. Das Gewaltpotenzial korreliert dabei mit dem Ausmaß der Bedrohung und Angst, sich isoliert und verloren zu erleben. Psychopathologisch relevant ist in erster Linie allerdings das Angewiesensein auf virtuelle Welten, in denen man sich nicht nur wirkmächtig, sondern auch solidarisch aktiv und deshalb verbunden erleben kann. Dieses Angewiesensein beinhaltet deshalb ein nicht geringes Potenzial für eine Abhängigkeitserkrankung.
FEHLENDE TRENNUNGSKRÄFTE ERHÖHEN GEWALTBEREITSCHAFT
Auch die ausgeblendeten eigenen Trennungsgefühle und - bedürfnisse kehren in der Wahl und der Thematik virtueller Welten wieder. Sich trennen zu wollen und zu können, setzt voraus, dass man Gefühle von Selbstbehauptung, Autonomie, Freiheit und im Dienste des Lebens stehender Aggression spüren und, von solchen Gefühlen geleitet, etwas bekämpfen, überwinden, zu Ende bringen, verlassen und hinter sich lassen kann. Aus der psychologischen Krankheitslehre weiß man: Werden Trennungsgefühle ausgeblendet, so dass sie nicht zur Bewältigung der eigenen Lebensaufgaben zum Einsatz kommen können, dann kehren sie mit großer Regelmäßigkeit als Depression (mit allen Schattierungen von Antriebslosigkeit, Gefühllosigkeit und Sinnlosigkeit) oder als Bedürfnis wieder, über sich und andere verfügen zu wollen. Bei der aggressiven Reaktion, die hier vor allem interessiert, manifestiert sich das Bedürfnis, über sich und andere verfügen zu wollen, in sadistischen, beherrschenden,
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