Der entgrenzte Mensch
Grenzüberschreitung den Menschen zur Grenzüberschreitung »nötigt«, unterstreicht, dass jeder Mensch immer und überall dieses psychische Bedürfnis befriedigen muss, weil ihm auf Grund seines Vorstellungsvermögens und des Bewusstseins seiner selbst der Widerspruch zwischen seiner begrenzten Vorfindlichkeit und seinen Möglichkeiten permanent präsent ist und ihn zu einer Antwort auf diesen Widerspruch je neu antreibt.
Dass dieses zur Grenzüberschreitung »nötigende« psychische Bedürfnis auf einem auch in der Tierwelt zu beobachtenden Neugier- oder Explorationsverhalten aufbaut, entkräftet das Argument nicht. Ähnlich wie sich das psychische Bedürfnis nach Bezogenheit aus dem tierischen Bindungsverhalten entwickelt hat (vgl. Bowlby 1969), so mag auch das spezifisch menschliche Bedürfnis nach Transzendenz auf einer tierischen Vorform aufbauen. Von Interesse ist dabei vor allem, zu welchen Veränderungen es angesichts der Reflexionsfähigkeit und des Imaginationsvermögens beim Menschen kommt.
(2) Die psychologische Reflexion der für den Menschen typischen Widerspruchssituation ermöglicht auch eine Aussage über das Wie der Befriedigung dieses Bedürfnisses nach Grenzüberschreitung. Weil nur der Mensch sich dessen bewusst ist, dass er sowohl Geschöpf als auch Schöpfer ist, stellt der Schöpfungsakt die ihm entsprechende Befriedigungsform dar. Die Fähigkeit zu einer kreativen Lösung bei der Grenzüberschreitung manifestiert sich nicht nur im Erzeugen von neuem Leben, sondern auch in der Hervorbringung von Kunst, Religion, materieller Produktion usw. Dass der Schöpfungsakt die dem Menschen angemessene Art der Grenzüberschreitung ist, schließt nicht aus, dass der Mensch auch zu anderen, nämlich destruktiven Lösungsformen fähig ist. »Auch indem ich das Leben zerstöre, kann ich es transzendieren.« (Fromm 1955, S. 30.) Wie im Schöpfungsakt, so wird auch im Akt der Zerstörung die Wahrnehmung der unerträglichen Begrenztheit überwunden, aber eben auf destruktive Weise.
Eine solche destruktive Grenzüberschreitung ist nachweislich eine Folge der Verhinderung oder Vereitelung von Kreativität: »Der Wille zu zerstören muss entstehen, wenn der Wille, etwas zu schaffen, nicht befriedigt werden kann.« (A.a.O., S. 31.)
Hinsichtlich des Entgrenzungsstrebens ist vor diesem Hintergrund zu fragen, ob nicht der Wunsch, sich grenzenlos zu erleben, der mit dem Streben nach Entgrenzung der Persönlichkeit des Menschen einhergeht, seine tiefste Wurzel in einer ohnmächtigen Selbstwahrnehmung des gegenwärtigen Menschen hat, die ihm aber weitgehend unbewusst ist: Im Vergleich zu dem, was die von ihm hervorgebrachten Dingen vermögen, erlebt der Mensch sein eigenes, begrenztes menschliches Vermögen nur als schwach und unvermögend. Tatsächlich kann er sich angesichts der Allmacht des gemachten Vermögens mit seinem menschlichen Vermögen nur ohnmächtig vorkommen. In dieser Situation noch auf seine Eigenkräfte, auf eigenes Denken, Wollen, Fühlen und Handeln zu setzen, heißt, die Kreativität des gemachten Vermögens zu behindern oder gar zu vereiteln. Darum strebt er nach einer Entgrenzung seiner Persönlichkeit durch deren Beseitigung bzw. Ausblendung und entwickelt eine Tendenz, alles, was mit der Begrenztheit des Menschen und des menschlichen Lebens zu tun hat, aus seinem Erlebensbereich tilgen zu wollen.
Die Anwendung des Entgrenzungsstrebens auf das menschliche Vermögen und die Persönlichkeit des Menschen zielt nicht nur auf die Beseitigung der Begrenztheit des Menschen, sondern auch auf die Beseitigung dessen, was der Mensch aus eigenem, wenn auch begrenztem Vermögen kann. Deshalb ist zu fragen, ob eine solche, entgrenzende Befriedigung des Bedürfnisses nach Grenzüberschreitung noch eine kreative, oder nicht vielmehr eine selbstzerstörerische Antwort auf das Bedürfnis nach Transzendenz ist. Eine definitive Antwort wird erst möglich sein, wenn geklärt ist, wie eine kreative Überschreitung der Begrenztheit des Menschen konkret aussieht, bei der etwas, das bis dahin menschlich nicht möglich war, möglich wird, so dass es zu einer
Verwandlung des Menschen und seiner Persönlichkeit kommt, ohne dass dabei die Begrenztheit des Menschen selbst beseitigt wird. Entwicklungspsychologische Prozesse können dies besonders anschaulich illustrieren. Sie zielen darauf, die Kreativität des Menschen zu befördern. Werden sie jedoch behindert oder gar vereitelt, dann ist nicht Kreativität, sondern
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