Der entgrenzte Mensch
zumeist nur möglich ist, wenn man sich gegenüber den Ansprüchen anderer abgrenzt).
Dass es kein Leben ohne Grenzen gibt und dass das Respektieren von Begrenzungen unabdingbar ist, hat mit der Eigenart des Lebens selbst zu tun. Leben, zumal menschliches Leben, ist immer etwas Bedingtes. Es hängt von ermöglichenden Faktoren ab und ist einem Prozess von Werden und Sterben, von Bindung und Trennung unterworfen; es entsteht und wird geboren und es vergeht und stirbt. Zeugung und Tod sind Grenzmarken des Lebens. Alle Vollzüge des Lebens müssen sich deshalb an der Begrenztheit des Lebens ausrichten.
Der Forderung, Leben als begrenzt anzuerkennen und sich an seiner Begrenztheit zu orientieren, wird von Vielen heute sofort widersprochen: Mit dem Insistieren auf der Begrenztheit des Lebens fördere man nur eine reaktionäre und autoritäre Gängelung des Menschen. Die Argumentation mit von Gott gegebenen oder naturgesetzlichen Grenzen oder mit Grenzen, die sich aus einer psychologischen Eigengesetzlichkeit ergeben würden, habe schon immer dazu gedient, Menschen ihre Autonomie, Freiheit
und Transzendenzfähigkeit vorzuenthalten, sie unmündig und abhängig zu halten und Macht über sie auszuüben.
So sehr es stimmt, dass sich aus der Begrenztheit menschlichen Lebens Angewiesenheiten und auch Abhängigkeiten ergeben, die mit großer Regelmäßigkeit missbraucht werden, ist die Möglichkeit des Missbrauchs kein wirkliches Argument gegen die Anerkenntnis der Begrenztheit (sondern eher eine Bestätigung). Wichtiger aber ist, dass bei der hier vorgestellten Art des Umgangs mit den Grenzen menschlichen Lebens sowohl deren Einhaltung als auch deren Überschreitung als notwendig erachtet wird. Darüber hinaus bedeutet die Anerkenntnis der Begrenztheit menschlichen Lebens nicht, dass diese Grenzen unveränderlich sind. Je flexibler die Lebensumstände, desto mehr sind wir damit beschäftigt, Grenzen zu verändern, zu de-konstruieren und zu re-konstruieren, sie anzupassen und neu zu definieren. Leben ist deshalb immer auch permanenten Grenzveränderungen unterworfen.
Aus der ungeheuren Vielfalt, wie Leben und das Zusammenleben organisiert und geregelt werden können, schließen andere, dass alles möglich sei und es deshalb keiner Grenzen mehr bedürfe. Der erste Schluss, dass (zumindest fast) alles möglich sei, stimmt insofern, als wir heute imstande sind, sogar Wirklichkeiten zu inszenieren und Realitäten zu simulieren, die es ansonsten nicht gibt und die es bisher nur in der Fantasie gab. Der zweite Schluss, dass es deshalb keiner Grenzen mehr bedürfe, ist jedoch ein Fehlschluss.
Viele interkulturelle Probleme haben mit der Unterschiedlichkeit von Grenzziehungen bei der Organisation des Zusammenlebens und des Selbsterlebens und mit der mangelnden Fähigkeit zu tun, die Grenzziehungen des jeweils anderen zu respektieren. Eine deutsche Frau kommt in der Tat ganz schnell an ihre Grenze, wenn sie mit einem muslimischen Schwarzafrikaner verheiratet ist, der dann noch eine zweite oder dritte Frau aus seiner afrikanischen Ethnie heiratet, weil er auf Grund seiner Sozialisation seine Würde und Ehre vor allem in der Ausübung seiner
Zeugungskraft unter Beweis zu stellen sucht. Leben ist auf sehr unterschiedliche Weise immer begrenzt. So unkompliziert die Globalisierung der Wirtschaft (zumindest unter kapitalistischen Machtregeln) zu sein scheint, so langwierig sind die Schritte hin zu einem interkulturellen Dialog (ganz zu schweigen bei der Entwicklung eines universalen Menschen), der die Begrenztheit des jeweils anderen anerkennt und zu überschreiten versucht, ohne sie zu beseitigen oder auszublenden.
Es lässt sich begründen, dass es kein Leben ohne Grenzen gibt. Alltagspraktisch und aus der Eigenart von Leben lässt sich aber auch die Gegenthese begründen: Alles Leben ist Grenzüberschreitung, weshalb Grenzen dazu da sind, überschritten zu werden. Im Laufe der Geschichte haben wir Menschen unsere Meisterschaft in der Grenzüberschreitung sogar ins Unermessliche steigern können: Das heute zur Verfügung stehende gemachte Vermögen in Gestalt von Maschinen, Techniken, Instrumenten, Methoden, Medien ermöglicht Grenzüberschreitungen in so gut wie allen Lebensbereichen. Mit dem Einsatz gemachten Vermögens können Grenzen des menschlich Möglichen nicht nur verändert und erweitert, sondern überschritten werden. Alles, was aus menschlichem Vermögen nie hervorgebracht werden könnte, aber mit gemachtem Vermögen zu
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