Der entgrenzte Mensch
Frustrationstoleranz ist, weiß jeder, der mit der Erziehung von Kindern zu tun hat. Was ist einem Kind an Enttäuschung und Versagung zumutbar? Was kann ich als Erziehende und Erziehender
einem Kind an Versagung zumuten? Wo führt das Enttäuschen und Versagen zu psychischen Hemmungen und Fehlentwicklungen und wann führt die Vermeidung von Frustration zu einer Verwöhnung des Kindes, so dass diese zu »Tyrannen« werden, deren Erwartungen und Wünsche immer befriedigt werden müssen? So kompliziert und für alle Seiten anstrengend die Entwicklung der Fähigkeit zur Frustrationstoleranz schon immer war und heute in verstärktem Maße ist, sie ist und bleibt eine unverzichtbare Fähigkeit des Ichs für eine gelingende Selbstentwicklung und für ein erträgliches Zusammenleben. Jeder Mensch muss bis zu einem bestimmten Maß die Fähigkeit entwickeln, Erwartungen und Wünsche im Raum halten zu können, ihre Befriedigung aufschieben bzw. mit weniger zufrieden sein zu können; in bestimmten Situationen führt kein Weg daran vorbei, auf eine aktuelle Befriedigung auch verzichten zu können und zu akzeptieren, dass einem eine Versagung zugemutet wird.
Was in der Erziehung zunehmend zum unlösbaren alltagspraktischen Problem wird und die Tyrannenbändigerliteratur auf Bestsellerlisten kommen lässt, hat vor allem mit einem Entgrenzungsstreben zu tun, das weder Grenzen der Mittel noch Grenzen des Wollens anerkennen will. Dieses Streben versucht systematisch, eine Praxis und Einübung in das Aushalten der Begrenztheit von Erwartungen und Wünschen zu umgehen. Es will an inszenierten Wunschwelten teilhaben, virtualisiert die eigene Persönlichkeit und taucht in virtuelle Parallelwelten ein oder setzt gar auf Belohnungserfahrungen durch psychoaktive Substanzen oder exzessive Verhaltensweisen. Es folgt der Devise: Warum sollte man sich einen Wunsch versagen und eine Enttäuschung aushalten und ertragen, wenn es Dopingmittel in Gestalt von entgrenzenden Realitätskonstruktionen gibt, die einem keine Enttäuschungen und Versagungen zumuten?
Spätestens hier wird die Frage nicht mehr aufschiebbar, ob das heute allgegenwärtige Entgrezungsstreben die einzige
Möglichkeit darstellt, mit Grenzen umzugehen. Es ist danach zu fragen, wozu Grenzen heute noch gut sind. Davon soll im folgenden Kapitel die Rede sein.
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UMGANG MIT GRENZEN
Angesichts des allgegenwärtigen Entgrezungsstrebens scheint es so, dass Grenzen in erster Linie dazu da sind, beseitigt zu werden. Dieser Eindruck täuscht. Richtig ist vielmehr, dass Beides zu beobachten ist: Grenzen sind dazu da, eingehalten zu werden, und Grenzen sind dazu da, überschritten zu werden. Der entgrenzte Mensch tut sich nicht nur mit der Behauptung schwer, dass Grenzen dazu da sind, eingehalten zu werden. Er hat auch ein anderes Verständnis von Grenzüberschreitung entwickelt, als es die sprachliche Bedeutung nahelegt. Wurde (in Kapitel 2) der Unterschied zwischen Entgrenzung und Grenzüberschreitung bzw. Transzendenz vom unterschiedlichen sprachlichen Bedeutungsgehalt her so gefasst, dass zwar beide Begriffe eine Überwindung von Grenzen bedeuten, die Entgrenzung aber Grenzen dadurch überwindet, dass sie sie beseitigt, während die Grenzüberschreitung die Grenze hinter sich lässt, ohne ihre Existenz selbst in Abrede zu stellen, so hat sich innerhalb des Entgrenzungsdenkens ein neues Verständnis von Transzendenz entwickelt, dem zufolge Grenzen dadurch überschritten werden, dass sie beseitigt werden. Diese Identifizierung von Transzendenz mit Entgrenzung provoziert die Frage, wozu Grenzen gut sind, und lässt mit Recht darüber streiten, wie Grenzen zu überschreiten sind.
WOZU GRENZEN GUT SIND
Die Behauptung, dass Grenzen dazu da sind, eingehalten zu werden, hat mit der Tatsache zu tun, dass es kein Leben ohne Grenzen gibt. Dieser Satz gilt zunächst auf der alltagspraktischen Ebene: Ohne Grenzen und Abgrenzung gibt es keinen Schutz (gegen Witterung oder Klima, gegen die Willkür von Institutionen oder gegen neidische, gierige, übergriffige Menschen, Blicke usw.), keine Verständigung (weil diese auf De-finitionen und verbindliche sprachliche Regeln angewiesen ist), kein Zusammenleben (weil hierfür Absprachen in Form von Rechten und Pflichten nötig sind), kein Bezogensein (weil ein solches immer ein abgegrenztes Gegenüber und Nicht-Ich zur Voraussetzung hat), kein Identitätserleben (weil es auch dieses nicht ohne Abgrenzung gibt), keine persönliche Freiheit (weil Freiheit
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