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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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bewerkstelligen ist, stellt eine Grenzüberschreitung dar. Wer wollte die Grenzen menschlichen Vermögens, einen sumpfigen Lebensraum trocken zu legen, nicht dadurch überschreiten, dass das Gebiet mit schwerem Gerät entwässert und die Malaria mit chemischen Mitteln ausgerottet wird? Warum sollte modernste Nachrichtentechnik nicht vor einem Tsunami warnen?
    Es ist aber nicht nur das gemachte Vermögen, das uns Krankheiten besiegen und den Weltraum erforschen lässt, den Zugang zu den genetischen Bausteinen des Lebens verschafft und immer spektakulärere Grenzüberschreitungen ermöglicht. Neben Wissenschaft und Technik haben Menschen bereits von Anfang an mit Kunst und Religion die Grenzen eines Lebens, das nur das
Überleben der Spezies im Sinne hat, zu transzendieren versucht und spezifisch menschliche Formen und Ausdrucksweisen der Grenzüberschreitung entwickelt. Dass Grenzen dazu da sind, überschritten zu werden, muss deshalb mit der Eigenart menschlichen Lebens und den Möglichkeiten der Spezies Mensch, sich seiner selbst bewusst zu sein und sich Dinge vorstellen zu können, zu tun haben.
    Bevor diese Eigenart menschlichen Lebens psychologisch reflektiert wird, sind einige begriffliche Präzisierungen vorzunehmen: Der Begriff Grenzüberschreitung oder Transzendenz wird hier generell zur Bezeichnung der Überschreitung einer begrenzten Vorgegebenheit benützt, so dass es zu etwas kommt oder etwas entsteht, das es so zuvor nicht gab. Grenzüberschreitung meint deshalb etwas anderes als Grenzveränderung ; diese geht in der Regel mit einer Ausweitung (oder Einschränkung) von Grenzen einher, überschreitet diese aber nicht. Welcher Art die begrenzte Vorgegebenheit bei der Grenzüberschreitung ist (etwa: eine Entwicklungsstufe, das Diesseits, das bewusste Wahrnehmen, die empirische Wirklichkeit) und woraufhin die Überschreitung zielt (etwa: das Jenseits, eine Tiefenentspannung, das Gewahrwerden von Unbewusstem, ein Leben nach dem Tod), ist nicht mit dem Begriff Transzendenz ausgedrückt. Ebenso wenig sagt der Gebrauch der Begriffe »Transzendenz« oder »Grenzüberschreitung« etwas über das Wie der Grenzüberschreitung aus.
    Geht es um das Wie der Grenzüberschreitung, dann stand bisher im Mittelpunkt des Interesses die Entgrenzung . Damit ist eine Grenzüberschreitung gemeint, die auf die reale Beseitigung oder das wahrnehmungsmäßige Ausblenden von Grenzen (etwa durch Drogen oder Virtualisierung) zielt. Eine andere Möglichkeit ist die bewusste Grenzverletzung, das regelwidrige Verhalten oder »ungehorsame« Zuwiderhandeln, bei dem die Grenze als solche nicht in Frage gestellt wird (bei dem jedoch unter Umständen mit Sanktionen zu rechnen ist). Schließlich kann man eine Grenze auch dadurch überschreiten, dass man sie hinter sich lässt, weil sie ihre begrenzende Funktion verloren hat oder verlieren soll.

    Um diese spezifisch menschliche Möglichkeit der Grenzüberschreitung soll es in diesem Kapitel vor allem gehen. Die Grenzüberschreitung zielt darauf, eine Grenze zu überwinden, allerdings nicht dadurch, dass die Grenze wie bei der Entgrenzung beseitigt oder ausgeblendet, sondern in einem Prozess des Überschreitens überwunden wird. Dass in psychologischer Perspektive Grenzüberschreitung als Prozess gesehen wird, der eine innere Auseinandersetzung verlangt, steht im Widerspruch zu der Art von Grenzüberschreitung, von der in diesem Buch die Rede ist. Das Buch thematisiert vor allem eine entgrenzende Überschreitung hinsichtlich der eigenen Persönlichkeitsentwicklung, die keine Rücksicht auf das begrenzte menschliche Vermögen mehr nehmen will, sich auch nicht mit ihm auseinander setzt, sondern es einfach beseitigt oder ausblendet und durch den Gebrauch gemachten Vermögens ersetzt.

NOTWENDIGE GRENZÜBERSCHREITUNGEN
    Eine psychologische Betrachtungsweise führt nach Erich Fromm vor allem zu zwei Aussagen bezüglich der Fähigkeit des Menschen zur Grenzüberschreitung:

    (1) Grenzen zu überschreiten, ist nicht nur eine Möglichkeit, sondern eine psychische Notwendigkeit. Weil der Mensch auf Grund seines Vorstellungsvermögens in der Fantasie jede Begrenzung überwinden kann, entwickelt er ein psychisches »Bedürfnis nach Transzendenz«, das ihn nötigt, »die Rolle des Geschöpfs, die Zufälligkeit und Passivität der kreatürlichen Existenz dadurch zu überwinden, dass er selbst zu einem ›Schöpfer‹ wird«
(Fromm 1955, S. 30). Die Formulierung, dass das psychische Bedürfnis nach

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