Der entgrenzte Mensch
Destruktivität die Folge.
GRENZÜBERSCHREITUNG UND PSYCHISCHE ENTWICKLUNG
Es hat mit der Eigenart allen Lebens zu tun, dass Leben immer begrenzt ist; und es hat mit dem Bewusstsein seiner selbst und mit seinem Vorstellungsvermögen zu tun, dass der Mensch sein Leben immer nur als ein begrenztes erleben kann. Menschliches Leben lässt sich als Prozess erlebten und verantworteten Werdens und Sterbens begreifen. Hinsichtlich ihrer biologischen Grundlagen entwickelten höhere Lebensformen die geschlechtliche Fortpflanzung sowie genetische Programme zur Brutpflege und Aufzucht, die die Weitergabe des Lebens an die nächste Generation ermöglichen. Die Grenzüberschreitung in die nächste Generation findet sich auch beim Menschen, doch lassen sich bei ihm psychologisch noch ganz andere Möglichkeiten der Grenzüberschreitung ausmachen, die ebenfalls der Dynamik von Werden und Sterben unterworfen sind, sich aber deutlich von den körperlichen Formen der Grenzüberschreitung unterscheiden.
Tatsächlich haben sich beim Menschen jenseits der körperlichen und der vom Körper abhängigen Wachstums- und Verfallsdynamik hochkomplizierte psychische Systeme der Verwandlung (Metamorphose, Transformation) entwickelt, mit denen endliches
Leben eine die bisherigen Möglichkeiten überschreitende Form und Gestalt erhält. Zum menschlichen Leben als Prozess gehört deshalb auch, das jeweils Vorgegebene und Bindende als hinderliche Grenze wahrzunehmen zu können und überschreiten zu wollen. So sehr es stimmt, dass Leben begrenzt ist und endet, so sehr stimmt deshalb in psychologischer Perspektive auch, dass es in sich die Potenz zur Grenzüberschreitung trägt und also weitergeht; es ist immer begrenzt, entsteht aber je neu und endet erst mit dem Eintritt des Todes.
Der Unterschied zwischen körperlichen und seelischen Formen der Grenzüberschreitung spiegelt sich auch in deutlichen Unterschieden zwischen körperlicher und seelischer Entwicklung. Die körperliche Entwicklung und die Entwicklung von körperabhängigen Fähigkeiten ist zwar auch einem Wachstums- und Verfallsprozess unterworfen und wird durch viele Faktoren (Ernährung, Infektionen, Unfälle, Intoxikationen, Überbeanspruchungen usw.) beeinflusst, aber insgesamt ist sie sehr viel mehr einer angelegten Programmatik unterworfen als die psychische Entwicklung. Die körperliche Entwicklung zeigt einen deutlichen Kräfteanstieg bis etwa zum 20. Lebensjahr; danach kommt es bereits wieder zu einem leichten, aber steten Nachlassen der Kräfte und zu spürbaren körperlichen Verschleißerscheinungen. Auch die geistige Leistungskraft, repräsentiert etwa in Wissen, Intelligenz, Erfahrung (und heute gerne »mentale Leistungsfähigkeit« genannt, vgl. Liedtke 2002, S. 205) zeigt eine Steigerung bis zum 40. Lebensjahr und dann eine ständige Abnahme. Ein solches Nachlassen der Kräfte lässt sich hinsichtlich der psychischen Kräfte nicht beobachten. Wer lieben, vertrauen und zärtlich sein kann, wer kritikfähig und interessiert oder kritikunfähig und immer gleich beleidigt ist, wird dies auch noch sein, wenn er bereits am Stock geht oder sich mit einem Rollator fortbewegt. Zu einem Verfall solcher Kräfte kann es höchstens kommen, wenn ihr neuronales Substrat zerfällt.
Ein weiterer Unterschied zwischen körperlichen und psychischen Entstehungs- und Verfallsprozessen zeigt sich hinsichtlich
ihres Energieverbrauchs. Körperliche wie psychische und auch geistige Aktivitäten benötigen gleichermaßen körperliche Energie, jede seelische Aktivität aber, die zu einer Aktivierung der psychischen Eigenkräfte des Menschen führt, verbraucht nicht, sondern erzeugt psychische Energie, macht seelisch nicht erschöpft und passiv, sondern hellwach und engagiert. Schließlich ist an dieser Stelle noch zu erwähnen, dass seelische Entwicklung in unterschiedlich langen Phasen des Entstehens und Vergehens (zum Teil auch Stufen oder Strukturniveaus genannt) verläuft (vgl. etwa Erikson 1950), an deren Übergängen es zu einer krisenhaften Zuspitzung kommt, die zu einem Verlassen und Überschreiten der bisherigen Möglichkeiten und Grenzen zwingt.
Die genannten Unterschiede resultieren vor allem aus der Tatsache, dass psychische Entwicklung nur ansatzweise nach festgelegten genetischen Programmen abläuft. Die psychische Veranlagung disponiert nur zu unterschiedlichen Realisationsmöglichkeiten. Welche Disposition zum Zuge kommt, hängt im Blick auf die psychische Entwicklung vor allem von
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