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Der entgrenzte Mensch

Titel: Der entgrenzte Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer Funk
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Beziehungserfahrungen ab, die ein Mensch während seines Lebens und insbesondere in den ersten Jahren seines Lebens macht. Diese Sicht ist, wie bereits in Kapitel 6 im Abschnitt über »Entbundene Beziehung« dargelegt wurde, empirisch gut belegt, nicht zuletzt durch die Bindungsforschung bei Säuglingen und Kleinkindern (vgl. Dornes 2006).
    Hängt psychische Entwicklung ganz entscheidend von Beziehungserfahrungen ab, die ein Mensch angesichts seiner fortschreitenden motorischen, sensorischen, kognitiven, emotionalaffektiven, musischen und intellektuellen Fähigkeiten macht, dann wirkt sich dieses Faktum auch auf die Dynamik und Art der erforderlichen psychischen Grenzüberschreitungen aus. Die Begrenztheit des Lebens wird im Psychischen als Beziehungserleben innerhalb bestimmter Grenzen wahrgenommen, weshalb Grenzüberschreitungen immer mit Trennungen und erneuten Bindungen einhergehen. Diese Dynamik von Bindung und Trennung ist auch der Grund dafür, warum die geforderten Grenzüberschreitungen
zumeist mit einer Dramatisierung der Beziehung zu anderen und zu sich selbst einhergehen, krisenhaft und konfliktbesetzt sind.
    Noch zwei weitere Aspekte ergeben sich aus dem Stellenwert, den Beziehungserfahrungen für die psychische Entwicklung und für die Fähigkeit zur Grenzüberschreitung haben:
    1. Psychische Entwicklung hängt über lange Zeit von Bezugspersonen ab, deren eigene Bindungs- und Trennungsfähigkeit ausschlaggebend ist für das Gelingen der kindlichen Grenzüberschreitungen. Hat eine Bezugsperson etwa Angst, das Kind loszulassen, oder (miss-)braucht es das Kind für ihre eigenen Wünsche nach Nähe oder Symbiose, dann wird sie versuchen, das Kind vor dem nächsten Trennungsschritt zu bewahren und zurückzuhalten. Gleichzeitig kommt es aber auch darauf an, zu welchen Reaktionen das Kind angesichts einer solchen Behinderung durch die Bezugsperson fähig ist. Manche Kinder fügen sich der Angst oder dem Wunsch der Bezugsperson und meiden die nächste Grenzüberschreitung; andere reagieren mit heftigem Widerstand, mit Trotz oder aggressivem Verhalten oder erzwingen mit Krankheit oder Unfall eine Trennung. An der Grenzüberschreitung durch andere gehindert zu werden oder sie zu verweigern bzw. gegen den Willen von anderen zu erzwingen, ist eine Besonderheit psychischer Entwicklung, die es bei der körperlichen Entwicklung nicht gibt (selbst wenn es der Traum vieler Menschen ist, immer jugendlich bleiben zu wollen).
    2. Psychische Entwicklung zielt auf eine zunehmende Unabhängigkeit von Bezugspersonen, so dass Grenzüberschreitungen über lange Zeit die Aufgabe haben, die Autonomieentwicklung zu fördern. Symbolisieren lässt sich dieser Aspekt psychischer Entwicklung am besten mit einer körperlichen Grenzüberschreitung, nämlich der Geburt: Die Abhängigkeit der Sauerstoffversorgung vom mütterlichen Blutkreislauf wird mit der Geburt dadurch überwunden, dass der Mensch selbst zu atmen beginnt (weshalb das
erste Schreien des Neugeborenen seine vom Körper der Mutter unabhängige Lebensfähigkeit signalisiert).
    Dieser Wechsel von einem Leben, das auf fremde Hilfe angewiesen ist, zu einem Leben, das aus eigener Kraft zu leben imstande ist, kann als Metapher für die Eigenart psychischer Grenzüberschreitung und Entwicklung überhaupt, insbesondere aber für die forcierte Autonomieentwicklung in der Kindheit und Jugend gesehen werden. Dabei kommt es zu folgender Verwandlung: Das psychische Angewiesensein auf Bezugspersonen und deren Schutz, Zuwendung, Nähe, Fürsorge, Feinfühligkeit, Berührung, aber auch deren Abgegrenztheit, Eigenwille und Eigenleben usw., wird durch eine Abfolge von psychischen Grenzüberschreitungen in entsprechende eigene Fähigkeiten transformiert. Weil der Mensch ein Bezogenheitswesen ist, finden alle diese psychischen Grenzüberschreitungen im Kontext von Beziehungserfahrungen statt. Auch setzen sie voraus, dass Bezugspersonen fähig sind, Bindungs- und Trennungsgefühle bei sich und im Kind als je eigene Gefühle spüren zu können.
    Die Frage, auf welche Weise psychische Abhängigkeiten in Eigenkräfte und eigene Fähigkeiten des Ichs transformiert werden, wird je nach psychologischem Ansatz etwas anders beantwortet. So wird die Verwandlung als Lernvorgang, als Gedächtnisbildung oder als innere Strukturbildung mit Hilfe von inneren Bildern, Repräsentanzen, Antriebskräften begriffen. Im Rahmen der hier vertretenen psychoanalytischen Bezogenheitstheorie führt jede psychische

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