Der entgrenzte Mensch
Grenzüberschreitung zu einer differenzierteren inneren Strukturbildung, die über unterschiedlich bezeichnete Arten der Verinnerlichung (psychische Inkorporation, Introjektion, Imitation, Internalisierung, Identifizierung) vonstatten geht. Im Effekt geht es immer darum, dass das, was bisher eine Funktion oder ein Aspekt der Bezugsperson(en) war, durch die Verinnerlichung zueigen gemacht wird, so dass sich die psychische Abhängigkeit von fremden Kräften reduziert.
Wird - aus welchen Gründen auch immer - eine psychische Grenzüberschreitung nicht gemeistert, dann kommt es zu einer
Fixierung auf dem betreffenden psychischen Entwicklungsniveau. Erkennbar ist eine solche Fixierung an der ständigen realen Abhängigkeit von Funktionen und Aspekten der Bezugspersonen sowie an einer »Zementierung« von entsprechenden Mustern des Antriebslebens und von besonderen Erwartungen, Wünschen und Bedürfnissen. Eine solche Fixierung muss nicht heißen, dass Menschen an die betreffende Bezugsperson (Mutter, Vater, Geschwister, Großmutter, Onkel usw.) fixiert bleiben, aber sie bleiben von den Funktionen und Aspekten dieser Bezugspersonen abhängig. Sie suchen dann im Ehepartner die verwöhnende oder bewundernde Mutter oder den zugewandten Vater, der kein sexuelles Begehren zeigt, in der Natur das Vertraute und Nährende einer kindlichen Urgeborgenheit, im peinlichen Einhalten aller Vorschriften und in der Zuflucht bei den Gesetzes- und Ordnungshütern den alles regelnden Vater, im religiösen Glauben den magischen Helfer und den sich nie entziehenden, nie schweigenden, immer im Gebet ansprechbaren Gesprächspartner oder im Cyberspiel das Geschwister, das immer gerne mit einem spielt und sich mit einem zu messen bereit ist.
Solche Fixierungen und Übertragungen sind das Ergebnis einer nicht bewältigten Grenzüberschreitung, die meist auch dazu führt, dass die nachfolgenden Grenzüberschreitungen nur partiell oder gar nicht gemeistert werden. Andererseits bedeutet eine solche Fixierung nicht, dass sie nicht auch noch später durch andere Beziehungserfahrungen gelöst werden kann: auf Grund einer veränderten Familienkonstellation oder anderer gesellschaftlicher Bezogenheitsmuster, durch Kennenlernen von Freundinnen und Freunden, die mutiger als man selbst mit Grenzüberschreitungen umgehen können, auf Grund des Miterlebens der Entwicklung eigener Kinder oder durch psychotherapeutische Beziehungserfahrungen. Solche anderen Beziehungserfahrungen können sehr wohl dazu führen, dass erforderliche Grenzüberschreitungen auch später noch gewagt werden.
Um das bisher Ausgeführte zusammenzufassen: Ausgangspunkt ist und bleibt, dass menschliches Leben immer begrenzt ist
und einer Dynamik von Entstehen und Vergehen, Werden und Sterben folgt. Im Psychischen zeigt sich diese Dynamik in einer Abfolge von Identifizierung und Abgrenzung, von Bindungs- und Trennungsvorgängen, wobei erst die Trennung von der bisherigen Bindung zu einer Grenzüberschreitung führt. Eine solche zeichnet sich durch einen Zuwachs an Lebensmöglichkeiten aus in Gestalt von Autonomie und Eigenkräften ( eigenes Wollen, Denken, Fühlen und Handeln) sowie einem gestärkten Ich (Fähigkeit, die Realität selbst zu prüfen und Ambivalenzen und Enttäuschungen zu ertragen), so dass tatsächlich Neuland betreten wird und Grenzen des Menschen-Möglichen überschritten werden.
BEGRENZTES LEBEN KREATIV ÜBERSCHREITEN
Weil psychische Grenzüberschreitungen in der Regel mit einer Dramatisierung des Beziehungserlebens einhergehen, werden sie durchaus auch von heftigen Gefühlen begleitet. Ihre Beschreibung soll verdeutlichen, wie kreative Grenzüberschreitungen emotional erlebt werden, um dann deutlicher eine kreative Grenzüberschreitung von einer entgrenzenden Grenzüberschreitung unterscheiden zu können.
Viele psychische Grenzüberschreitungen werden durch einen Zuwachs an körperlichen, sinnlichen und geistig-intellektuellen Kräften befördert, durch die es zu neuen Strebungen und Gefühlsreaktionen kommt: Das Kleinkind kann sich nicht nur robbend und krabbelnd, sondern auf einmal gehend durch den Raum bewegen; ihm wächst eine Fähigkeit zu, die es jetzt auch eigene Wege gehen lassen will. Die Jugendliche bekommt mit der Geschlechtsreifung
eine körperliche und sinnliche Attraktivität, die auch ein Selbstgefühl, begehrlich zu sein, befördert. Sie möchte nun auch mit ihrem Körper und ihrer Sinnlichkeit begehrlich sein. Der junge Mann, der seine handwerkliche
Weitere Kostenlose Bücher