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Der Erbe der Nacht

Titel: Der Erbe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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fort. »Jemand, der es weder mit der Wahrheit noch mit dem Besitz anderer Leute immer so genau nahm.« Er grinste. »Ich hätte dir gefallen, damals, glaube ich. Ich war jung und hatte jene Menge Flausen im Kopf, als ich nach London kam. Und um ein Haar hätte ich schon meinen ersten Tag hier nicht überlebt. Ich … verirrte mich in eine verrufene Gegend, weißt du, und ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte ich vier Burschen am Hals, die es auf meine Brieftasche abgesehen hatten. Ich schlug einen nieder und konnte fliehen, aber sie verfolgten mich.
    Sie holten mich ein, und einer fiel mit einem Messer über mich her.« Ich riß die Augen auf und starrte ihn an. Was er da erzählte, war genau mein Traum. Aber das war doch unmöglich!
    Mein Großvater fuhr fort, ohne von meinem Erstaunen sichtbare Notiz zu nehmen: »Ich glaube, er hätte mich ermordet, wenn nicht unverhofft Hilfe aufgetaucht wäre: ein Fremder, den ich noch nie gesehen hatte. Es sah ganz harmlos aus, aber er verdrosch die drei Messerstecher nach Strich und Faden, kann ich dir sagen. Und anschließend nahm er mich mit hierher.«
    »Hierher?«
    »Nicht direkt hierher«, antwortete Großvater. »Das Haus stand damals noch nicht, weißt du? Er nahm mich mit in sein Hotel, und er unterbreitete mir einen Vorschlag, der so absurd klang, daß ich ihn am liebsten ausgelacht hätte. Er … war nicht allein. Er hatte ein Kind bei sich. Ein Neugeborenes, gerade ein paar Tage alt. Er schlug mir vor, mich dieses Kindes anzunehmen. Ich hatte kein Geld, ich war selbst noch ein halbes Kind und hatte überhaupt keine Ahnung, was ich mit dem Säugling tun sollte, aber er sagte, er würde sich um alles kümmern. Ich sollte ihm nur versprechen, mit niemandem darüber zu reden, für alles andere würde gesorgt; einschließlich eines gehörigen Einkommens. Um ehrlich zu sein, ich hielt ihn für komplett verrückt, aber ich schlug ein was hatte ich zu verlieren?«
    »Und dieses Kind war «
    »Eines nach dem anderen, Robert«, unterbrach mich Großvater. »Die Geschichte geht noch weiter. Jener Fremde gab mir neue Kleider, mehr Geld, als ich als Landstreicher und Gele-genheitsdieb in einem ganzen Jahr verdienen konnte, und neue Papiere und verschwand. Wenige Tage später erhielt ich eine Depesche von einem namhaften Londoner Notar, in der ich in seine Kanzlei gebeten wurde. Ich ging hin, obwohl mir die Sache immer spanischer vorkam. Aber ich hatte zugesagt, und das Geld und auch das Abenteuer reizten mich.«
    »Und?« fragte ich, als er wieder nicht weitersprach, sondern nur an mir vorbei ins Leere starrte.
    »Man überschrieb mir dieses Haus«, fuhr er fort.
    »Es war damals nur eine Ruine, gerade erst niedergebrannt, aber ich bekam genug Geld, um es nach den Originalplänen wieder aufzubauen. Es gab nur zwei Bedingungen daß ich diese Uhr niemals von ihrem Platz entferne und niemandem vom Inhalt des Wandsafes erzähle.«
    In seiner Geschichte war ein Fehler, und es dauerte nur Sekunden, bis ich dahinterkam.
    »Aber dieses Haus brannte vor hundert Jahren nieder«, sagte ich.
    Großvater nickte. »Ich weiß. Das versuche ich dir ja die ganze Zeit beizubringen, Robert. Es war nicht mein Vater, der dieses Haus wiederaufbauen ließ. Ich war es selbst.«
    »Du?« Ich schüttelte verstört den Kopf. »Aber das ist unmöglich. Du bis neunzig, und der Brand «
    »Nein«, sagte Großvater. »Das bin ich nicht. Es hat mich große Mühe gekostet, mein Geheimnis zu bewahren, aber bis heute ist es mir gelungen. Ich bin genau einhundertachtzehn Jahre alt, Robert. Und das Kind, das der Fremde damals bei sich hatte, bist du.«
    Das Gefühl von Hysterie, gegen das ich schon die ganze Zeit über kämpfte, wurde stärker. »Das ist nicht wahr«, sagte ich.
    »Das kann nicht stimmen.« Ich lachte schrill. »Deinen Humor in Ehren, Mac, aber … ich wüßte es, wenn ich hundert Jahre alt wäre. Ich bin zwanzig.«
    »Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende«, fuhr Großvater ungerührt fort. »Ich tat alles, was man von mir verlangte. Ich führte ein bürgerliches Leben. Ich wurde bekannt, nahm meinen Platz in der Gesellschaft ein, und als es Zeit wurde, verschwand ich und tauchte ein paar Jahre später als mein eigener Sohn wieder auf, der angeblich in Europa aufgewachsen war. Jedermann glaubte mir wer wäre schon auf die Idee gekommen, daß ich so etwas wie ewige Jugend geschenkt bekommen hatte? Ich glaubte es ja selbst nicht, doch es war so.
    Oh, ich alterte, aber langsam, sehr langsam. Und

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